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EU: Die AfD hat längst gewonnen – und keiner hat es mitgekriegt

von | Apr 18, 2023 | Analyse

Kann die Welt aus der Geschichte lernen? Hin und wieder scheint es möglich: Nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg etwa gaben sich die Länder mit der Genfer Flüchtlingskonvention ein verbindliches Gebot, Menschen, die fliehen, nicht an einen Ort zurückzuschicken, an dem ihnen Verfolgung droht. Während der NS-Herrschaft mussten tausende Menschen die Erfahrung machen, sich bereits in Sicherheit zu wähnen – nur um dann zurück ins Verderben geschickt zu werden. Das Non-Refoulement Gebot ist deswegen eine der großen Errungenschaften, wenn es darum geht, Menschenleben zu retten. 

Europa und insbesondere Deutschland inszenieren sich gerne als Musterschüler, wenn es ums Lernen aus der Geschichte geht. Aber mit Blick auf das Non-Refoulement Gebot kann davon lange keine Rede mehr sein. Polen, Kroatien, Griechenland, Italien, Malta, Kanarische Inseln, Ärmelkanal – in welche Richtung man blickt: Entlang der Grenzen um die EU hat sich ein System der Gewalt etabliert, das täglich neue Menschenopfer fordert. Die Politik findet immer neue Mittel und Wege, fliehenden Menschen die Ankunft in Sicherheit zu verweigern.

Hast du überhaupt mitgekriegt, dass letzte Woche vor der Küste Tunesiens wieder 30 Menschen gestorben sind? Allein 2023 bereits 500? Die feucht-faschistischen Träume der AfD von Toten an unseren Grenzen sind längst Realität. Sie hat längst gewonnen und du kriegst es nicht einmal mehr mit.

Jede der gerade genannten Grenzregionen ist ein Skandal für sich. Überall erfahren Menschen massive Gewalt und Folter, ihre Würde und ihre Rechte werden mit Füßen getreten, überall sterben Menschen, die leicht hätten gerettet werden können. Doch das Sterben findet inzwischen fernab der Öffentlichkeit statt. Dieser Artikel fokussiert sich beispielhaft auf die Situation in Libyen und dem angrenzenden Mittelmeer, weil sich hier besonders deutlich zeigt, mit welchen perfiden Mitteln die EU bereit ist, sich aus der Verantwortung zu ziehen. 

Die Irrfahrt der MS Saint Louis

Fast 1000 Menschen dachten im Mai 1939, sie wären nun endlich in Sicherheit. An Bord des Transatlantik-Passagierschiffs MS Saint Louis verließen sie den Hamburger Hafen mit dem Ziel Kuba. Fast alle waren deutsche Juden, die der zunehmenden Feindseligkeit in Deutschland entfliehen wollten und das Schlimmste erahnten. Sie hatten Einreiseerlaubnisse und Transitvisa für Kuba und warteten auf den Gültigkeitszeitraum ihrer Visa für die USA. Aufgrund strikter Kontingente und Obergrenzen sowie großer bürokratischer Hürden war es extrem schwer, überhaupt eine Chance auf die begehrten Visa zu bekommen und es gab lange Wartezeiten, bis die Dokumente schließlich gültig wurden. 

Nach zwei Wochen Überfahrt erreicht das Schiff den Zielort Havanna. Freunde und Verwandte der Passagiere, die vorher ausgereist waren, versammelten sich am Hafen, um ihre Lieben zu begrüßen und ihnen die Ankunft in der unbekannten, aber anscheinend sicheren Welt zu erleichtern. Die ersten Menschen gingen von Bord, als sich die Stimmung plötzlich drehte. Polizei tauchte auf, verweigerte die Anlandung und zwang diejenigen, die bereits festen Boden unter den Füßen hatten, zurück auf das Schiff. 

Keine legale Einreisemöglichkeit

In Folge wachsender ausländerfeindlicher und antisemitischer Stimmung sowie innenpolitischer Konflikte war es kurz vorher zu einer Änderung in den Einreisebestimmungen gekommen. Die Papiere der meisten Passagiere waren kurzfristig für ungültig erklärt worden. Nur 23 Menschen konnten letztlich in Kuba von Bord gehen. Nach fünf Tagen erfolgloser Verhandlung zwangen die kubanischen Behörden das Schiff, den Hafen zu verlassen. Der Kapitän nahm schließlich Fahrt Richtung Florida auf, in der Hoffnung, die Passagiere doch direkt in den USA von Bord lassen zu können. Aber auch daraus wurde nichts. US-Präsident Roosevelt verweigerte eine Sonderregelung, die es den Menschen erlaubt hätte, von Bord zu gehen.

Es gab keine legale Möglichkeit für die Menschen, an Land zu gehen. Trotz großer medialer Aufmerksamkeit und diplomatischer Bemühungen wurde keine Lösung gefunden. Die USA hatten zu dem Zeitpunkt eine Obergrenze an Einreiseerlaubnissen, und es bestanden lange Wartelisten auf die begehrten Plätze. Während die Passagiere die Lichter Miamis am Horizont sehen konnten, erhielt der Kapitän einen Befehl der deutschen Nazi-Regierung, nach Deutschland zurückzukehren. 

Verzweiflung an Bord

Die Stimmung an Bord spitzte sich dramatisch zu. Die Vorräte wurden knapp und die Panik unter den Passagieren, tatsächlich zurück nach Deutschland gebracht zu werden, wuchs. Nach zähen Verhandlungen erklärte sich Belgien schließlich bereit, die Menschen anlanden zu lassen, sofern andere Länder sich an ihrer Aufnahme beteiligen würden. Am 17. Juni landete die MS Saint Louis schließlich nach fünfwöchiger Irrfahrt auf dem Atlantik in Antwerpen. Die Passagiere wurden zwischen den Ländern Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien verteilt. 

Diejenigen, die nach Großbritannien gelangen, überlebten den Krieg fast vollständig. Als Deutschland weite Teile Westeuropas besetzte, befanden sich 532 der ehemaligen Passagiere der MS Saint Louis wieder der Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt. Nur die Hälfte von ihnen, 278 Menschen, überlebten den Holocaust

Hier sind nur drei derer, die nicht überlebten: 

Das Non-Refoulement-Gebot

Wie hoch die Zahl der Menschen ist, denen die Flucht gelungen war und deren Rettung daran scheiterte, dass ihnen die Einreise auf sicheren Boden verwehrt wurde, lässt sich kaum sagen. Klar ist, dass die Geschichte der MS Saint Louis kein Einzelfall war. 

Das sogenannte Non-Refoulement Gebot ist deswegen sicherlich eines der wichtigsten völkerrechtlichen Grundsätze. Es besagt, dass Menschen nicht in Staaten zurückgewiesen werden dürfen, in denen ihnen Gefahr für Leben und Freiheit droht. Das Gebot ist ein Versuch, den Schutz von Menschenleben im Zweifelsfall über staatliche Souveränitätsrechte zu stellen. Das Gebot findet sich in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen wieder. Besonders prominent ist es in der Genfer Flüchtlingskonvention verankert. Dort heißt es in Art. 33: 

„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“

Wenn einer Person also durch eine Zurückweisung eine Gefahr für Leben oder Freiheit entsteht, darf sie nicht zurückgewiesen werden. 

Bewegungsfreiheit, wie wir sie kennen

Für viele, die diesen Artikel lesen, ist Bewegungsfreiheit selbstverständlich. Ob Auslandssemester, Verwandtenbesuch oder Backpacking-Reise – wir buchen ein Ticket und los gehts. Und auch wenn es länger sein soll – wegen spannenden Jobmöglichkeiten, besseren Unis oder weil man einfach mehr Sonne braucht: In den meisten Ländern der Welt bekommen Menschen mit einem europäischen Pass unkompliziert eine Aufenthaltserlaubnis. 

Der deutsche Pass landet 2023 im weltweiten Ranking zusammen mit Spanien auf Platz 3 aller weltweiten Pässe, die die größte Reisefreiheit ermöglichen. Wer diesen Pass besitzt, genießt faktische Bewegungsfreiheit auf der ganzen Welt. Und das gilt unabhängig von den Gründen für die Reise. 

Aber wie sieht es am anderen Ende des Rankings aus? Auf den letzten Plätzen liegen die Länder Afghanistan, Irak, Syrien, Pakistan, Jemen und Somalia. Menschen aus diesen Ländern haben faktisch kaum Möglichkeiten, legal in andere Länder zu reisen. Und zwar auch hier unabhängig von den Gründen für die Reise. Nur sind ihre Gründe oft nicht der Wunsch nach Erholung und Abwechslung, sondern der Wunsch danach, nicht verfolgt zu werden, die Ernährung der Familie zu gewährleisten oder nicht in einem grausamen Krieg zwischen die Fronten zu geraten. Momentan sind sie diejenigen, für die das Non-Refoulement-Gebot überlebenswichtig wäre.

Das Non-Refoulement Gebot: heute ein zahnloser Tiger

Doch trotz des Non-Refoulement Gebots sind Zurückweisungen aller Art heute Alltag an den europäischen Außengrenzen. Betroffen sind diejenigen Menschen, für die es keine legalen Möglichkeiten der Einreise gibt und die trotzdem ihr Menschenrecht auf das Stellen eines Asylantrags geltend machen wollen. Sie werden gedemütigt, gefoltert und über Grenzen geprügelt, auf Boote gehievt, im Meer ausgesetzt, ihre Maydays werden ignoriert – und das alles, ohne Prüfung, ob ihnen in dem Land, in das sie zurückgeschickt werden, Gefahr droht.

Menschenrechtsorganisationen sind sich einig, dass wir auf dem Gebiet der europäischen Migrationspolitik eine grundsätzliche Abkehr von Menschenrechten und allen voran dem Non-Refoulement Gebot erleben. 

Ein zentraler Schauplatz ist dabei das zentrale Mittelmeer. Dort sind in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 bereits über 500 Menschen ums Leben gekommen. Werfen wir einen Blick auf die Situation im zentralen Mittelmeer und wie die EU das Non-Refoulment Gebot dort systematisch umgeht. 

Verbrechen gegen die Menschlichkeit 

Wer über Flucht über das zentrale Mittelmeer sprechen will, muss über Libyen sprechen. Denn Libyen ist über die Jahre zum Dreh- und Angelpunkt von Migrationsabwehr mit allen Mitteln, Menschenhandel und Flucht geworden.

Gerade hat die UN einen Bericht veröffentlicht, der das ganze Elend in Libyen zusammenfasst. Darin heißt es, es gebe „begründeten Anlass zu der Annahme, dass im Zusammenhang mit Freiheitsentzug in ganz Libyen Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Libyern und Migranten begangen wurden“. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das ist eines der Kernverbrechen des internationalen Völkerstrafrechts. Es wird definiert als Gewalt, die im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung“ stattfindet. 

Im Bericht der UN-Gruppe ist die Rede von willkürliche Inhaftierung, Mord, Folter, Vergewaltigung, Versklavung, sexuelle Sklaverei, außergerichtliche Tötung und erzwungenes Verschwinden lassen. Diese Gewalt richtet sich gegen die libysche Zivilgesellschaft, insbesondere aber auch gegen migrierende Menschen. Diese finden sich laut dem Bericht in einem „entsetzlichen Kreislauf der Gewalt“ wieder, sobald sie libyschen Boden betreten. 

Trotz all dem unterstützt die EU nicht etwa Menschen darin, diesem Elend zu entkommen – sondern fördert Strukturen, die alles dafür tun, dass die Menschen genau dort bleiben. Dafür gehen sie notfalls über Leichen. Der Bericht der UN stellt heraus, dass die EU Beihilfe zur Ausführung der genannten Straftaten gibt.  

Aber der Reihe nach. 

Die Lage für Flüchtende in Libyen: Folter, Vergewaltigungen und Milizen 

Libyen war aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage in den 90ern ein Zielland für Migrant:innen aus verschiedenen afrikanischen Staaten. Doch im Zuge der Sanktionen gegen Langzeitmachthaber Gaddafi litt die Wirtschaft und die Anspannung im Land wuchs. Migrant:innen wurden zu Sündenböcken erklärt. Sie wurden gewaltsam festgehalten oder wortwörtlich in die Wüste geschickt, also deportiert. Im Jahr 2000 kam es zu einem Massaker mit über hundert toten Migrant:innen. Immer mehr Menschen versuchten daraufhin, Libyen in Richtung Italien zu verlassen.

Berlusconi, der damalige italienische Regierungschef, schloss daraufhin 2008 ein sogenanntes Freundschaftsabkommen mit Gaddafi ab. Darin begründeten die beiden eine Kooperation, deren Ziel es war, dass möglichst wenig Menschen von Libyen aus nach Italien kamen. Italien begann, Menschen, die die italienische Küstenwache im Mittelmeer rettete, direkt zurück nach Libyen zu bringen – ein klarer Verstoß gegen das Non-Refoulement Gebot und die europäische Menschenrechtskonvention, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2012 feststellte.

Parallel zu den Pushbacks durch Italien machte ein neues Gesetz in Libyen ab 2010 den Aufenthalt von Migrant:innen im Land über Nacht illegal. Fortan waren Einreise, Aufenthalt und Ausreise illegal und wurden mit unbegrenzter Internierung, Zwangsarbeit und Abschiebung bestraft. Für Flüchtende gibt es seit dem keine Möglichkeit mehr, sich legal im Land aufzuhalten und keinen Schutz vor Abschiebungen in ein Land, in dem ihnen Verfolgung droht. Das heißt, Libyen hat keinerlei Flüchtlingsschutz, wie es in der Genfer Konvention beschlossen wurde.

Milizen regieren alles

Spätestens seit dem Sturz von Gaddafi im Jahr 2011 nutzen kriminelle Banden und Milizen die verzweifelte Lage und Schutzlosigkeit von Flüchtenden systematisch aus. Die staatlichen Strukturen in Libyen sind nach Revolution und Bürgerkrieg schwach. Viele staatliche Aufgaben werden von Milizen übernommen, die jeweils eigene Interessen verfolgen und miteinander in Konflikt stehen. Und sie haben die Not von Migrant:innen im Land zu Nutzen gelernt:

Die Milizen betreiben Schmuggelnetzwerke und erpressen Geld von Familienangehörigen. Gleichzeitig stellen sie die sogenannte libysche Küstenwache und betreiben die Lager, in die abgefangene Menschen interniert und zur Zwangsarbeit gezwungen werden. Der Chef des staatlichen „Directorate for Combating Illegal Migration“ ist ein Milizenboss und Menschenhändler, dem schwere Verbrechen vorgeworfen werden. 

Das heißt: Menschen, die zu fliehen versuchen, müssen sich auf Schmuggelnetzwerke verlassen, weil ihre gesamte Existenz im Land illegal ist. Beim Versuch der Überfahrt werden sie von der sogenannten libyschen Küstenwache, einer lokalen Miliz, abgefangen, die sie in Lager werfen, die von anderen Milizen kontrolliert werden, und in denen sie Zwangsarbeit leisten müssen und für Geld gefoltert werden. Es ist ein Kreislauf der Gewalt. 

Milizen machen Geld aus dem Leid der Flüchtenden

In einem früheren Bericht der UN heißt es, dass Menschen durch das Handeln der sogenannten „libyschen Küstenwache“ und des Lagersystems Bedingungen ausgesetzt sind, die darauf ausgelegt seien, Leid hervorzubringen. Milizen, Schmuggler und der Staat profitieren davon, weil die betroffenen Menschen alle Mittel nutzen, um sich aus dieser grausamen Situation zu befreien. 

Das heißt: Es gibt in Libyen kein System, das fliehende Menschen vor massiver Ausbeutung und Misshandlung schützt. Die staatlichen Strukturen sind direkt in die Ausbeutung fliehender Menschen involviert und profitieren davon. 

Eine Flucht aus diesen Umständen ist also mehr als nachvollziehbar. Doch statt die Menschen vor der libyschen Küstenwache zu retten, die sie bekanntermaßen zurück ins Elend schickt und damit Geld macht, unterstützt die EU genau diese Handlungen. 

Werfen wir einen Blick auf die Situation im Mittelmeer, wo Menschen versuchen, dem Elend in Richtung Europa zu entfliehen. Dem Versuch Italiens, Menschen, die aus Libyen fliehen, direkt wieder selbst dorthin zu bringen, hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof 2012 eine klare Absage erteilt. Dennoch finden Italien und die gesamte EU Mittel und Wege, um die Menschen nicht in Europa von Bord gehen zu lassen. Um zu verstehen, wie das funktioniert, braucht es Hintergrundinfos zur Situation im Mittelmeer. 

Was ist eine SAR-Zone und wie ist die Seenotrettung geregelt?

Das Meer ist ein gefährlicher Ort. Um eine möglichst allumfassende Rettung von Menschen in Seenot sicherzustellen, wurde 1979 ein internationales Übereinkommen getroffen, das einheitliche Standards und die Grenzen von Seegebieten, in denen bestimmte Staaten sich um die Seenotrettung kümmern sollten, festlegte. Diese Gebiete werden als Search-and-Rescue-Zonen, also Such- und Rettungszonen, kurz SAR-Zonen bezeichnet. Sie sind nicht deckungsgleich mit den territorialen Gewässern.

Damit ein Staat eine SAR-Zone haben kann, muss er ein Rettungsleitstellen (Maritim Rescue Coordination Center, kurz MCRR) haben, das die Rettungseinsätze koordiniert. Dieses wiederum muss bestimmten Standards entsprechen: Etwa muss es rund um die Uhr erreichbar sein und die Angestellten müssen Englisch sprechen können. Die Anerkennung und Aushandlung der SAR-Zone erfolgt in erster Linie durch die Anrainerstaaten – in Falle Libyens also Italien und Malta.

Aufgrund der instabilen Lage im Land hatte Libyen lange Zeit keine SAR-Zone. Menschen, die im Mittelmeer etwa von der italienischen Küstenwache gerettet wurden, wurden nach Italien gebracht. Um dem ein Ende zu setzten, engagierten sich Italien, Malta und Europa zunehmend für die Einrichtung einer libyschen SAR-Zone. Dafür wurde jede Menge Equipment wie Boote und Überwachungstechnik sowie Geld zur Verfügung gestellt. 

Die Bemühungen Italiens und Europas zielten darauf ab, ein Rettungszentrum in Libyen und eben eine libysche Küstenwache aufzubauen. Diese sollte die Boote noch in der libyschen SAR-Zone abfangen und so verhindern, dass sie es in die italienische oder maltesische SAR-Zone schaffen und dann von den dortigen Rettungskräften gerettet werden müssen. 

Die libysche SAR-Zone: Eine Farce

Da es in Libyen keine stabilen staatlichen Strukturen gibt, die eine Seenotrettung sicherstellen könnten, wurden stattdessen ortsansässige Milizen mit den Aufgaben betraut. Der Chef einer dieser Gruppen steht auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats, weil man ihn mit Menschenschmuggel und dem Ertrinken lassen von Menschen in Verbindung bringt. Er war zuvor auf Einladung des italienischen Innenministeriums als Vertreter der sogenannten libyschen Küstenwache in Italien zugegen. So erklärt sich auch, warum viele von der „sogenannten“ libyschen Küstenwache sprechen. 

Boote, die als nicht seetauglich gelten, werden automatisch als Seenotfall eingestuft. Das bedeutet grundsätzlich, dass Handelsschiffe und Küstenwachen all jene provisorischen Kutter, mit denen die Menschen versuchen aus Libyen zu fliehen, umgehend retten müssen. Seit es so etwas wie eine libysche Küstenwache gibt, führt das dazu, dass diese in Zusammenarbeit mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex Boote ortet und abfängt. 

Das Ziel der sogenannten Libyschen Küstenwache ist es nicht, das Leben der Menschen zu retten, die versuchen, zu fliehen. Immer wieder verzögert sie die Rettung innerhalb der libyschen SAR-Zone, mindestens einmal schossen Mitglieder der sogenannten libyschen Küstenwache, um die Rettung fliehender Menschen durch zivile Seenotretter zu verhindern. Das Ziel ist allein zu verhindern, dass die Boote die maltesische oder die italienische SAR-Zone erreichen. 

Geld gegen „Migrationsmanagement“

Von Italien und der EU wurden dafür nicht nur Boote und Überwachungsequipment zur Verfügung gestellt, sondern auch jede Menge Geld. Insgesamt hat die EU bisher über 57 Millionen Euro an Libyen bereitgestellt. Außerdem erhielten Angehörige der sogenannten Küstenwache Training zu Menschenrechten und Gender-Awareness. Das Geld fließt im Rahmen des Programms EU Nothilfe Treuhandfonds für Afrika. Der Name ist ein Euphemismus. Der Fond stellt Gelder für verschiedene afrikanische Länder bereit – damit diese dann Maßnahmen umsetzen, die Migration möglichst verhindern. So reicht das europäische Grenzregime bis weit auf den afrikanischen Kontinent und entfaltet auch dort seine tödliche Wirkung. 

Seit 2018 gibt es nun also eine libysche SAR-Zone, in der die sogenannten libyschen Küstenwache retten soll und so verhindern soll, dass die Boote die SAR-Zonen von Italien und Malta erreichen. Die sogenannte libysche Küstenwache entspricht aber keinesfalls den Ansprüchen einer Küstenwache. Das Telefon ist oft nicht besetzt, das Personal spricht kein Englisch und oft genug werden Boote, die sich noch innerhalb der libyschen SAR-Zone in Seenot befinden, einfach nicht gerettet.

Dafür kommt es immer wieder vor, dass die libysche Küstenwache auch in den SAR-Zonen von Italien und Malta Boote abfängt und zurück nach Libyen bringt. In der Praxis agiert die sogenannte libysche Küstenwache also nicht als Rettungsdienst, sondern verhindert in erster Linie, dass Boote es aus der libyschen SAR-Zone rausschaffen. Entweder indem sie die Menschen abfängt und zurück in die libyschen Gefängnisse bringt, oder indem sie sie ertrinken lässt. 

Bereits 500 Tote dieses Jahr

Es ist erst Frühling in Europa – und schon jetzt zeichnet sich ab, dass das Jahr 2023 eines der tödlichsten Jahre im Mittelmeer werden wird. Das Projekt Missing Migrants, das Todesfälle fliehender Menschen dokumentiert, zählt bereits über 500 Tote auf der zentralen Mittelmeerroute dieses Jahr. Der letzte Eintrag ist vom 11. April. Bei einem Unglück vor der Küste Tunesiens starben 30 Menschen. Schlagzeilen macht all das schon lange nicht mehr.

Aktuell spitzt sich die Lage in Tunesien dramatisch zu. Der Präsident Kais Saied hatte Ende Februar eine Rede gehalten, in der er durch massiv rassistische Rhetorik die Gefahr einer angeblichen „Umvolkung“ durch Migrant:innen aus Zentralafrika heraufbeschwor. „Umvolkung“ ist ein Nazi-Begriff und das eine rechtsextreme Verschwörungserzählung.

Damit nutze er exakt jene Narrative, die seit Jahren durch rechtsextremistische Gruppen weltweit verbreitet werden. Daraufhin kam es zu einer Reihe rassistischer Attacken gegen Migrant:innen, die nun wiederum versuchen, das Land in Richtung Italien zu verlassen.

Weil es kein funktionierendes Seenotrettungsprogramm im Mittelmeer gibt, das tatsächlich auf die Rettung von Menschenleben abzielt, sterben täglich Menschen. Die Routen ändern sich, aber es zeigt sich einmal mehr, dass sich Migration nicht so „managen“ lässt, wie sich europäische Politiker:innen das wünschen. Menschen versuchen, verzweifelten Situationen zu entkommen – die wohl menschlichste Eigenschaft überhaupt.

Kein Ende in Sicht

Das Non-Refoulement Gebot hat im Mittelmeer jede Bedeutung verloren. Da Länder wie Italien nicht selbst Menschen zurückdrängen können, werden nun gewissermaßen Türsteher bezahlt, um die Drecksarbeit zu machen. Die EU hat ein System etabliert, das funktioniert: Die libysche Küstenwache hat 2023 bereits über 4000 Menschen abgefangen und zurückgebracht in Folter und Vergewaltigung, im Jahr 2022 waren es insgesamt über 24.000. Gleichzeitig kriminalisiert die faschistische Regierung in Italien zivile Seenotrettung. Und auch der deutsche Verkehrsminister Wissing arbeitet gerade an einer Reform der Schiffsicherheitsverordnung, die die zivile Seenotrettung deutlich erschweren würde.

Libyen und die Situation im zentralen Mittelmeer ist, wie eingangs erwähnt, nur ein Beispiel. Ähnlich ließe sich die Situation an vielen anderen europäischen Grenzregionen beschreiben. Konkrete Zahlen zu nennen ist oft schwer, denn wo fängt man an zu zählen? Eine große Zahl von Menschen stirbt mittlerweile noch bevor sie überhaupt in den afrikanischen Mittelmeerstaaten ankommen, bei dem Versuch, die Sahara zu durchqueren oder weil sie etwa von algerischen Sicherheitskräften mitten in der Wüste allein gelassen werden. Unmittelbar an europäischen Grenzen starben im vergangenen Jahr jeden Tag über acht Personen.

Unsere Grenzen könnten genauso gut von der AfD regiert werden

Allen europäischen Grenzregionen gemeinsam bleibt: Geltendes Recht wird mit Füßen getreten und ausgehöhlt, Menschen sterben. Dabei ist das Non-Refoulement nicht vom Himmel gefallen, sondern war eine Lehre aus der Vergangenheit, die Erkenntnis, dass Menschenleben nur gerettet werden können, wenn das Leben mehr zählt als die staatliche Souveränität. Eine rechtsextreme AfD oder irgendeines ihren faschistoiden Äquivalenten in den anderen europäischen Parteien mussten dazu gar nicht mal erst an die Macht kommen, damit an den Grenzen auf Migranten geschossen wird, wie sich das einst auch von Storch in einem „Mausrutscher“ wünschte.

Die Empörung war groß. EU-Politik wurde es letztlich in gewisser Weise schon. Auf dem Titelbild dieses Artikels siehst du übrigens ein brennendes Schlauchboot, das von der „libyschen Küstenwache“ letzten Oktober „abgefangen“ wurde. Diese hat übrigens auch den Seenotrettern damit gedroht, ihre Aufklärungsdrohnen mit Raketen abzuschießen. Man will auch nicht, dass du überhaupt mitkriegst, was hinter den EU-Grenzen eigentlich so genau passiert.

Es ist leicht, im Nachhinein geschockt zu sein. Wir sind uns einig, dass alle Passagiere der MS Saint Louise sofort hätten an Land gelassen werden müssen. Niemand von ihnen hätte die Angst erleben sollen, zurück unter die Nazi-Herrschaft zu gelangen, und niemand hätte sterben sollen. Erst vor sieben Tagen starben wieder 30 Menschen vor der Küste Tunesiens und du hast wahrscheinlich nicht mal davon gehört. Mit der Etablierung bestimmter internationaler Normen hat die Welt aus der Geschichte gelernt. Aber eben diese Lehren werden nun Stück für Stück ignoriert.

Artikelbild: Fiona Alihosi/Sea-Watch/AP/dpa