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Wie dich die Medien jahrelang über „Arabische Clans“ belogen haben

von | Mrz 3, 2023 | Analyse

Eine neue Studie von Özgur Özvatan, Bastian Neuhauser und Gökçe Yurdakul von der Humboldt-Universität zu Berlin zeigt, dass in den letzten 10 Jahren die „Clan“-Berichterstattung der Leitmedien rassistischen Narrativen folgte. Dies trifft besonders arabische Familien, die in den Diskursen als „arabische Clans“ bezeichnet und dabei in kriminellen Verwandtschaftsnetzwerken dargestellt wurden. Und das, obwohl die meisten Mitglieder friedlich sind und sich von Kriminalität distanzieren.

Kriminalität findet selten in der Großfamilie statt und Familienangehörige kennen sich oft gar nicht. Die Forscher:innen haben über 23.000 Artikel aus den Mainstream-Medien über Clans ausgewertet, die zwischen 2010 und 2020 veröffentlicht wurden. Ihre Ergebnisse zeigen, wie das Narrativ der „arabischen Clans“ im Vergleich zu anderen „Clan“-Diskursen verstärkt rassifizierend und kriminalisierend ist. Die anti-arabischen Narrative folgen einer Strategie der Angst, welche als Hebel für eine strengere Sicherheitspolitik instrumentalisiert wird. Arabische Familien, die nichts damit zu tun haben, leiden besonders darunter.

Familiennamen werden zum Synonym für Clan-Kriminalität

Seit dem Jahr 2010 tritt der Begriff „Clan“ vermehrt in den deutschen Nachrichten auf. Libanesische und palästinensische Familien werden meist als „arabische Großfamilien“ und „arabische Clans“ bezeichnet, wenn diese Familiennamen wie Abou-Chaker, Al-Zain, Chahrour, Miri und Remmo tragen. Untersuchungen zeigen, dass diese Namen zum Synonym für rassistisch motivierte organisierte Kriminalität geworden sind, obwohl die Realität diesen Schluss nicht zulässt. Denn Fakt ist, dass sich viele Angehörige der Familien gar nicht kennen und nur die wenigsten davon tatsächlich kriminell sind. Massenmedien und Politik schenken jedoch gerade den einzelnen, kriminellen Familienmitglieder überproportional viel Aufmerksamkeit. Diese unausgewogene Berichterstattung verzerrt die realen Verhältnisse und schadet den Familienmitgliedern, die eigentlich nichts damit zu tun haben.

Die in Deutschland lebenden Mitglieder der Großfamilien erleben vielfältige Diskriminierungsformen im Alltag, Bildung, Arbeitsmarkt und durch die Polizei. Hier ist auch eine fragwürdige Statistik der Sicherheitsbehörden in Niedersachsen zu nennen, die alle Straftaten von Menschen mit oben genannten Nachnamen der Clan-Kriminalität zuordnete. Selbst dann, wenn nicht klar war, ob diese mit clankriminellen Strukturen zusammenhingen, wie der Journalist Mohamed Amjahid aufdeckte.

AUs dem „Arier-Nachweis“ nichts gelernt?

Diese Praxis ist auch deshalb fragwürdig, weil in deutschen Behörden als Lehre aus der nationalsozialistischen Vergangenheit eigentlich keine Daten zur ethnischen Zugehörigkeit mehr gesammelt werden. Die Behörde umgeht dies über den Hilfsindikator des Familiennamens, der zum Platzhalter für die ethnische Zugehörigkeit wird; und welche ihrerseits wiederum zum Platzhalter für die organisierte Kriminalität wird. Ein LKA-Bericht der Berliner Polizei forderte die Verknüpfung von Familiennamen als Hinweis für organisierte Kriminalität bereits 2012, hielt die Umsetzung aber insgesamt für zu zeitintensiv. Wie nun das Vorgehen der Niedersachsener Polizei zeigt, ist diese Praxis aber auch nicht zwingend zielführend und bläht unter Umständen die Kriminalstatistik nur künstlich auf.

Der Indikator über den Familiennamen liefert außerdem nur bedingt brauchbare Ergebnisse. Denn eine Verwandtschaft bedeutet nicht, dass sich die Familienmitglieder untereinander auch tatsächlich kennen, wie der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba in einer Studie feststellte. Denn die Großfamilien haben sich über die Zeit ausdifferenziert; sie sind keine zusammenhängende Gruppe. Jarabas Studie zeigt zudem, dass die Kriminalität nicht innerhalb der Groß-, sondern der Kernfamilie stattfindet. Sowohl Polizei als auch Medien stellen dies also falsch dar.

Studie zeigt: Undifferenzierte Berichterstattung über „arabische Clans“ führt zu moralischer Panik

Die Studie von Özvatan, Neuhauser und Yurdakul deckt auf, dass die Diskurse zu „Arabischen Clans“ diskriminierenden Argumentationsstrategien folgen und Berichte darüber sowohl rassifizierend als auch kriminalisierend sind. Die Leitmedien konstruieren laut ihrer Studie über anti-arabische Narrative eine von der Realität entkoppelte moralische Panik (engl: moral panic).

Moralische Panik ist ein Mechanismus, bei welchem das Verhalten einer Gruppe als Gefahr für die Gesellschaft stilisiert wird, um auf diese Weise die Gruppe stärker zu kontrollieren. Die Massenmedien spielen hier eine wichtige Rolle. Sie greifen die konstruierten Argumentationsstrategien auf und füttern diese mit entsprechenden Beiträgen und Bildern. So wird die moralische Panik zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Die empirische Realität rückt in den Hintergrund; Anekdoten und undifferenzierte Berichte dominieren die Diskurse. Ähnliches haben wir bereits in der Berichterstattung zur Letzten Generation und der Berliner Silvesternacht aufgezeigt.

3 Rassifizierende und kriminalisierende Argumentationsstrategien in den Medien

Die Forscher:innen identifizieren drei übergreifende Argumentationsstrategien im Diskurs über „Arabische Clans“. Ein Argument ist, dass diese nach Deutschland einwandern und dies außer Kontrolle geraten sei. Fakt ist jedoch, dass unter den Mitgliedern von Großfamilien die wenigsten kriminell sind. Straftaten werden von Einzelpersonen oder unabhängig von der Verwandtschaft verübt. Außerdem lehnt der Großteil der Familienangehörigen kriminelles Verhalten ab und distanziert sich davon.

Eine weitere Argumentationsstrategie ist, dass die „Arabischen Clans“ eine Parallelgesellschaft mit eigener geschlechtsspezifischer sozialer Ordnung bilden. Es ist wahr, dass in Familien mit kriminellen Mitgliedern besondere Sozialisationsstrukturen bezüglich Männlichkeit, Ehre und Hierarchie vorzufinden sind. Ein Problem ist jedoch, dass sich Medien, Politik und vor allem auch die Forschung selbst nur selten auf Präventionsstrategien und Handlungsempfehlungen konzentriert. Die strukturellen Hürden und Probleme in unserem System, welche die Integration erschweren, werden kaum beleuchtet. So wird das Verhalten in den Familien essentialisiert, anstatt die ursächlichen Rahmenbedingungen zu hinterfragen.

Medien waren nicht immer kritisch genug

Zuletzt identifizieren die Forscher:innen Argumente, die sich auf die Überwachung der Clans und Einsätze durch die Polizei stützen. Allerdings werden oft undifferenziert staatliche Akteure, wie Politiker oder die Polizei zitiert. Von Journalist:innen werden außerdem nicht immer kritische Nachfragen getätigt. Denn laut einer Studie von Mahmoud Jaraba demonstriert die Polizei durch Einsätze und Razzien oftmals nur ihre Macht, ohne dass tatsächliche Straftaten vorliegen. Wird hier einseitig ohne kritisches Hinterfragen zitiert, entsteht eine Verzerrung der Realität.

Die Studie sieht besonders die Berichterstattung als einen wichtigen Faktor, der dazu beigetragen hat, dass sich diese Narrative so verbreitet und die moralischen Panik angetrieben haben. In den Leitmedien wurden „Arabische Clans“ und einzelne Clan-Mitglieder häufig als „Kriminelle“ bezeichnet und dies mit dem Begriff „arabisch“ und „Großfamilie“ ergänzt. Selbst wenn es dafür eigentlich keine Belege gab. Gegenperspektiven und Berichte über die Erfahrungen, Alltagsleben und Diskriminierung von den friedlichen Angehörigen von Großfamilien wurden hingegen kaum beleuchtet. Diese Schieflage verstärkte die moralische Panik um „arabische Clans“ und ihre Bedrohung für den deutschen Staat.

Rassistische und vorverurteilende Berichte dominieren den Diskurs um „arabische Clans“

Mit verschiedenen Framing- und Perspektivierungsstrategien wurde das Bedrohungsnarrativ also medial weiter verbreitet. Hierzu zählt auch, dass unausgewogen vor allem staatliche (Sicherheits-)Behörden wie z. B. die Polizei oder Politiker:innen zitiert wurden, die als authentische Quellen für die vermeintliche Bedrohung fungierten.

Peer Steinbrück (SPD) erklärte beispielsweise 2015 in einem Gastbeitrag in der Zeit:

Steinbrück attestiert eine schleichende Bedrohung, die er durch anekdotische Evidenz untermauert. Echte Belege für diese Aussage liefert er nicht. Die „Gruppen mit Migrationshintergrund“ werden in einem Atemzug mit „Organisierter Kriminalität“ genannt, ohne hier eine Differenzierung vorzunehmen. Stattdessen wird ein Wir-Sie-Gegensatz konstruiert, bei dem staatliche Akteure wie „Polizisten, Lehrer und Richter“ als moralisch überlegene Helden im Kampf gegen das Böse inszeniert werden.

Gleichzeitig werden den genannten Gruppen eine frauenfeindliche Sozialastion unterstellt. Die eher unterschiedlichen „Gruppen mit Migrationshintergrund“ und die der „Organisierten Kriminalität“ werden von Steinbrück ohne jegliche Belege in einen Topf geworfen und pauschal als wachsende Bedrohung für Frauen dargestellt. Offizielle Zahlen hierfür gibt es aber nicht.

Relativierung der Mehrheit der deutschen Täter

Ein Blick in die Kriminalstatistik zu partnerschaftlicher Gewalt von 2015 zeigt zumindest, dass bei den aufgezeichneten Gewalttaten, die meisten Tatverdächtige deutsche Staatsbürger:innen waren. Ca. 71,6 % der verzeichneten Fälle von Partnerschaftsgewalt gehen auf deutsche Staatsbürger:innen zurück. Der Anteil der männlichen Staatsangehörigen darunter lag bei 79,1 %.
Hier muss angemerkt werden, dass diese Statistik insgesamt nicht perfekt ist, da von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist und nur partnerschaftsbezogene Gewalt abgebildet ist. Für einen direkten Vergleich müssten weitere Faktoren, wie z. B. demographische Merkmale und der Bevölkerungsanteil berücksichtigt werden, aber darum geht es hier nicht. Bei dieser Statistik geht es darum, dass Steinbrücks Darstellung der moralisch überlegenen „Deutschen“ nicht haltbar ist. Respektloses und bedrohliches Verhalten gegen Frauen ist ein ernsthaftes Problem. Es begegnet Betroffenen überall und auf allen möglichen Ebenen. Die strukturelle Benachteiligungen von Frauen so pauschalisierend gegen Menschen mit Migrationshintergrund auszuspielen, und dabei Deutschlands eigene Misogynie derart unter den Teppich zu kehren, ist schlicht Populismus.

Die Studie sieht in diesen Diskursen die traditionelle Annahme der Medienwissenschaften bestätigt, dass Quellen; insbesondere staatliche Quellen „die Nachrichten machen“ und dies nicht immer die ganze Wahrheit abbildet. Wer es letztlich als Quelle in die Medien schafft, ist entscheidend für die Machtverhältnisse der Diskurse. Im Fall der „Arabischen Clans“ zeigen die Forscher:innen, dass dieser Diskurs einseitig und unausgewogen im großen Maßstab einen Wir-Sie-Gegensatz konstruierte. Die staatlichen Akteure präsentierten sich darin überwiegend als Helden, die sich den „Bösewichten“ entgegenstellen. Gegenperspektiven und Differenzierungen zu der friedlichen Mehrheit der Familienmitglieder, die nichts damit zu tun haben, wurde hingegen weniger Platz eingeräumt.

Das Narrativ der ethnonationalen Wiedergeburt

Laut Özvatan, Neuhauser und Yurdakul treten staatliche Behörden, wie die Polizei oder Politiker:innen, aber auch die Öffentlichkeit als (meist männliche) heldenhafte Retter auf. Entweder als Experten, die mit ihren Erkenntnissen „aus der Praxis“ Autorität verliehen bekommen oder als Publikum, das die Bedrohung vermeintlich erkannt hat. Sie bedienen sich u. a. eines ethnonationalen Narrativs, das die Forscher:innen „ethnonationale Wiedergeburt“ bezeichnen. Der deutsche Held wird als „unschuldig“ und „gut“ als Gegenpol zum „schurkischen arabischen Anderen“ stilisiert.

Letzterer wird als nicht zugehöriger muslimischer Einwanderer geframed, der durch rassifizierte Verwandtschaftsbeziehungen – also arabische Clans –  das Verbrechen organisiert und die moralisch „guten“ Deutschen damit bedroht. Das böse „arabische Andere“ wird als Zerstörer der „Deutschen“ friedlichen moralischen Ordnung konstruiert. Die unausweichliche Lösung in diesem Narrativ: Eine Rückkehr zur strengen polizeilichen Kontrolle durch den Staat, um die „deutsche“ soziale Ordnung wieder herzustellen.

Die Studie sieht in diesem Diskurs der moralischen Panik eine klare Botschaft: Um den zivilisatorischen Fall zu verhindern, muss die Bedrohung, die mit den „arabischen Clan-Anderen“ verbunden sind, kontrolliert und abgewehrt werden, um zu „unserer wahren“ friedlichen Vergangenheit zurück zu kehren. Darin vermischt sich schwarz-weiß Denken mit rassifizierenden und kriminalisierenden Elementen, um letztlich mehr Kontrolle und Gewalt gegen ein fiktives „Anderes“ zu erwirken. Besonders konservative und rechte Akteure greifen diese Narrative auf, um eine Rückkehr zu anti-modernen Zeiten zu pushen. Und Massenmedien tragen dezidiert dazu bei, dass sich solche Diskurse entwickeln und schließlich verbreiten.

Verzerrte Diskurse befeuern Diskriminierung und Gewalt

All das hat echte Konsequenzen in der Welt jenseits der Medien. Denn rassifizierende und kriminalisierende Diskurse helfen dabei, rassistische Ideologien in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und zu legitimieren. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 945 Gewalttaten mit rechtsextremistisch motiviertem Hintergrund verübt. Jeden Tag werden im Durchschnitt zwei Asylsuchende pro Tag attackiert. Im vergangenen Jahr hat die Zahl von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte um 73 %, zugenommen. Der Großteil dieser Attacken erfolgt aus rassistischen Motiven. Gleichzeitig sind zum Beispiel anerkannte Geflüchtete weitaus weniger kriminell als andere Migranten. Sie haben im Jahr 2017 nur 0,53 Prozent der Tatverdächtigen bei Straftaten ausgemacht. Anerkannte Asylbewerber sind statistisch gesehen also gesetzestreuer als „Bio-Deutsche“. Trotzdem dominieren die Diskurse zu ihrer angeblichen Kriminalität. Mehr dazu:

Solche Diskurse, wie auch die über „Arabische Clans“, die völlig heterogene Gruppen über einen Kamm scheren, sind deshalb irreführend und gefährlich. Um die Verbreitung solcher rassistischer Narrative zu stoppen, ist es deshalb umso wichtiger, dass Medien ihre Rolle und Verantwortung anerkennen. Eine differenzierte und faktenbasierte Berichterstattung, die auch die Perspektiven von Betroffenen und nicht nur die von voreingenommenen Behörden und Politiker:innen berücksichtigt, wäre hier ein Anfang.

Korrekturhinweis: in einer früheren Version hieß es, dass im Jahr 2015 deutsche Staatsbürger:innen 60% der Tatverdächtigen bei Partnerschaftsgewalt ausmachten. Tatsächlich liegt der Anteil jedoch bei 71,6 %. Der Anteil der männlichen Staatsangehörigen darunter lag bei 79,1%. Die dazugehörige Grafik mit den falschen Zahlen wurde entfernt.

Artikelbild: ZouZou