von Tobias Wilke
REFLEXARTIGE BERICHTERSTATTUNG
Ob Hamburg, Leipzig oder immer wieder Berlin und zuletzt auch Stuttgart: Sobald mögliche Gewalttaten gegen die Polizei im Fokus der Berichterstattung stehen, dauert es zumeist nur wenige Stunden, bis die Redaktionen ihre ersten „Kein Einzelfall! Gewalt wird immer schlimmer!“-Artikel aus dem Hut zaubern. Das geht schon seit Jahren so.
Mitunter werden dann von den Bildagenturen Symbolfotos eingekauft: Fast immer zeigen diese in schwarz gekleidete, junge Männer mit Sturmhauben, die wahlweise zum Wurf eines Molotowcocktails ausholen oder mit der Faust auf einen Polizisten einschlagen.
Das Ganze wird dann mit Gesamtzahlen aus Jahresstatistiken garniert und so getan, als sei der Anlass der Berichterstattung (also ein konkreter, besonders „spektakulärer“ Fall) nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Also genau die „Gewalt“, die Polizist*innen angeblich täglich erleben müssen: brutale Angriffe durch Linksextremisten.
Hier eine winzige Auswahl entsprechender Artikel:
ALLE BERICHTEN, KEINER RECHERCHIERT
Als „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamt*innen“ definiert das Bundeskriminalamt (BKA) mehr oder weniger willkürlich insgesamt elf mögliche Straftatbestände. Diese reichen vom Widerstandsdelikt nach §113 StGB bis hin zum Mord, inklusive der versuchten Delikte.
Warum aber „Widerstand“, also beispielsweise das Festhalten an einem Laternenpfahl oder der Versuch, sich aus einem polizeilichen Haltegriff heraus zu lösen, überhaupt noch als eine „Gewalttat“ gegen Personen erfasst wird, bleibt ein Geheimnis des BKA.
Schon der Versuch, nach einem Beamten zu treten oder zu schlagen, würde als §114 StGB „Tätlicher Angriff“ erfasst. Dieser Straftatbestand wurde erst 2017 eingeführt, vorher wurden die meisten dieser Delikte als „(einfache) Körperverletzung“ nach §223 StGB gezählt.
Die Folge:
Seit der Polizeilichen Kriminalstatistik 2018 sinken vor allem die Körperverletzungsdelikte in den „Bundeslagebildern Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamt*innen“, während die „Tätlichen Angriffe“ steigen.
Die BKA-Pressestelle und Horst Seehofer hatten sich diesen Effekt zu Nutzen gemacht, die sinkenden Körperverletzungsdelikte einfach ausgeblendet und für ihre Presseerklärungen nur „Widerstand“ und „Tätlicher Angriff“ betrachtet. Die Folge: Sie konnten bei der „Gewalt gegen die Polizei“ plötzlich eine Steigerungsrate von 8,6% präsentieren, obwohl diese im Lagebild des BKA nur 1,3% beträgt und bei den schweren Körperverletzungsdelikten sogar deutlich gesunken ist.
Leider haben alle uns bekannten Medien einfach die viel zu hohe Steigerungsrate aus der Pressemitteilung übernommen, anders als der Volksverpetzer:
Presse fällt auf Manipulation herein: Gewaltkriminalität gegen Polizeibeamte um 31,2 % gesunken!
Zahlen zu angeblicher „Gewalt“ gegen Polizisten: Täter-Opfer-Umkehr in der Polizeigewalt-Debatte
LINKSEXTREMISTEN VS. POLIZISTEN
Laut BKA-Lagebild (nicht der falschen Pressemitteilung!) lag die Zahl der „Gewaltdelikte mit Opfererfassung Polizeivollzugsbeamt*innen“ vergangenes Jahr bei 38.635 Straftaten.
Mehr als die Hälfte davon (50,6%) waren Widerstandsdelikte, bei denen man es gar nicht erst versuchte, einen Polizeibeamten zu verletzen.
Im Verfassungsschutzbericht werden teilweise auch die Ziele extremistischer Straftaten aufgeführt. So gibt es beispielsweise eine eigene Betrachtung der „Rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund“ (695 Straftaten).
Auf Seite 36 finden sich die „Gewalttaten von Linksextremisten gegen die Polizei/Sicherheitsbehörden“ mit verschiedenen Straftatbeständen. Einige davon wurden zusammengefasst, wie beispielsweise die verschiedenen Körperverletzungs- und Tötungsdelikte.
Wertet man diejenigen Delikte aus, die man auch im „Bundeslagebild Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamt*innen“ erfasst, verbleiben 386 der 467 Straftaten: 131 Körperverletzungen (inkl. Versuchen), 1 Raub und 254 Widerstandshandlungen.
Das heißt: Zwei von drei dieser Straftaten (65,8%) waren lediglich „Widerstandshandlungen“, die sich gegen das „staatliche Vollstreckungsinteresse“ richteten – also nicht verwechselt werden sollten mit „Gewalttätigkeiten gegen Personen“.
Vergleicht man diese insgesamt 386 Straftaten mit den 38.635 aus dem Lagebild des Bundeskriminalamts, hat gerade einmal jedes 100. „Gewaltdelikt mit Opfererfassung Polizeivollzugsbeamt*innen“ (exakt: 0,999%) einen linksextremistischen Hintergrund!
FALSCHE SYMBOLBILDER
99% der sogenannten „Gewalt gegen Polizisten“ haben demnach überhaupt keinen linksextremistischen Hintergrund. Dennoch dominieren solche Themenbilder sehr deutlich die Berichterstattung. Dass der Verfassungsschutz anders zählt als das BKA ist ausgeschlossen – die Zahlen werden vom BKA zu Verfügung gestellt und entsprechen den Delikten aus der eigenen Statistik zur „Politisch Motivierten Kriminalität“ für die Fälle, bei denen die Polizei selbst einen extremistischen Hintergrund annimmt.
Unser Vorschlag: Die Bildredakteur*innen sollten sich einfach ein wenig an der Realität orientieren. Denkbar wären Betrunkene, die sich am Tresen festklammern oder Autofahrer, die bei einer Alkoholkontrolle das Messgerät wegschieben und die Scheibe wieder hochfahren.
Als Clickbait eher ungeeignet, aber vielleicht gibt es „da draußen“ auch noch so etwas ähnliches wie journalistische Ansprüche? Hier ein mögliches Themenbild „Anbahnung einer Widerstandshandlung“:
Artikelbild: shutterstock.com
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