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Wie der rechte Kulturkampf von Merz & Co. das nächste Sonneberg vorbereitet

von | Jun 27, 2023 | Analyse

Im thüringischen Sonneberg hat am 25. Juni 2023 zum ersten Mal seit 1945 eine offen völkisch-nationalistische Partei eine Landratswahl gewonnen: Der AfD-Kandidat Robert Sesselmann erhielt in der Stichwahl gegen CDU-Kandidat Jürgen Köpper 53 Prozent der Stimmen. Es ist ein erschütternder Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte, aber leider kein überraschender – genauso wenig überraschend sind die Reaktionen aus großen Teilen der CDU/CSU und FDP auf den Sieg des AfD-Kandidaten. Nachdem Mitglieder beider Parteien in den letzten Monaten vermehrt rechte „Kulturkampf“-Narrative und Framings aufgegriffen hatten, könnte man meinen, dass die erste Wahl eines AfD-Politikers zum Landrat zu politischer Introspektion anregt oder zur internen Schuldsuche, wie man selbst zu dem Debakel beigetragen hat – beispielsweise durch das Mainstreaming rechter Erzählungen.

Kniefall vor rechten Erzählungen

Das Gegenteil ist der Fall: Stattdessen suchen Vertreter*innen von CDU/CSU und auch der FDP die Schuld anderswo – nämlich links von sich selbst. Sie sehen die Schuld für den Erfolg der AfD bei dem, was sie gern „Identitätspolitik“, „politische Korrektheit“, „Wokeismus“ oder „Kulturkampf“ von links nennen. Damit wird das Ja zu rechtsextremer Politik als eine Art Notwehr dargestellt. Die Bundestags-Abgeordnete Katja Adler (FDP) twitterte:

„Wer den Menschen nicht zuhört, ihre möglicherweise nicht unbedingt linke oder grüne Meinung gern als rechtsradikal framt, Wähler als Nazis oder Idioten beschimpft und ihnen am Ende sogar Demokratieverständnis abspricht, wundert sich ernsthaft noch, dass genau diese Menschen genau jenes Mittel nutzen, das ihnen in unserer Demokratie bleibt? Sie stimmen ab. #Sonneberg“ 

Diese Position ist letztlich nur die neue, tweet-gewordene Version des Kemmerich-Handschlags mit Höcke – der Kniefall vor und die Übernahme der rechten Erzählung davon, dass Rechtsextremismus der Normalfall sei, das, was „normale“ Menschen, „echte“ Bürger*innen, „echte“ Deutsche denken – und alles, was der Rechtsextremismus hasst und zu zerstören sucht – Toleranz, Pluralität, Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte – weinerliches Mimimi von linken Schneeflocken und totalitäre Meinungsdiktatur in einem sei.

Ampel sei schuld, wenn die CDU gegen die AfD verliert?

Der Generalsekretär der CDU, Mario Czaja, beklagte auf Twitter, dass der Wahlkampf in Sonneberg „[…] deutlich von bundespolitischen Themen überlagert“ worden sei, „für die die Bundesregierung in der Verantwortung steht.“ Die Schuld am AfD-Sieg sieht auch der geschlagene CDU-Kandidat Jürgen Köpper bei der Ampel: „Es ist eine reine Parteienwahl geworden und was uns auf die Füße gefallen ist, ist tatsächlich die unsägliche Politik der Bundesregierung“, sagte Köpper im „Morgenmagazin“. Eine absurde Position – wie soll die Regierung Schuld daran sein, dass der bisherige Amtsinhaber von der (bundespolitischen) Oppositionspartei bei der erneuten Kandidatur bei der Landratswahl antritt und diese Wahl verliert? Zumal Vertreter*innen von SPD, Linke, Grünen und FDP zuvor ihre Wähler*innen dazu aufgerufen hatten, in der Stichwahl für den CDU-Mann Köpper zu stimmen? 

Doch ähnliche mentale Brezel-Gymnastik betreibt auch der CDU-Chef Friedrich Merz – und erläutert seinen Gedankengang etwas genauer: Die Regierung sei schuld daran, dass sich „Protest“ radikalisiere, behauptete er auf einer Pressekonferenz. „Sie können vor allem in der Regierungsverantwortung so arbeiten, dass politische Extrema keinen Erfolg haben. Das ist jetzt bei dieser Koalition anders. Wenn die Regierungsarbeit so ist, wie sie ist und damit ein solches Wahlergebnis erzielt wird, dann ist die Opposition nur begrenzt in der Lage, das in die andere Richtung zu kommunizieren.“

Immer das gleiche: Schuld an Sonneberg seien die Grünen

Schuld an Sonneberg seien vor allem die Grünen, behauptet Merz, und „Denn die Grünen sind dafür verantwortlich, dass diese Polarisierung um die Energiepolitik, um die Umweltpolitik in dieser Weise entstanden ist“, sagte er. „Deswegen werden für uns auf absehbare Zeit auch die Grünen die Hauptgegner sein in dieser Bundesregierung.“ Merz beklagte außerdem eine „bevormundende, moralisierende Außenpolitik“ und kündigte an, in Sachen Einwanderungspolitik in Zukunft noch stärker „vereinfachend kommunizieren“ zu wollen – eine düstere Ansage angesichts der Rhetorik, die die CDU in den letzten Monaten bereits bedient hat. 

In Merz’ Aussagen zeigt sich, was hinter dem Narrativ steht, die Bundesregierung sei mit ihrer angeblich radikalen Politik Schuld daran, dass unbescholtene Bürger*innen Rechtsextreme wählen: Die klassische Erzählung rechter Kulturkämpfer, die die Unterstützung rechter, völkischer Politik als eine Art Notwehrreaktion darstellt. Es ist ein rhetorischer Trick: Wer gegen marginalisierte Gruppen hetzt, ihnen ihre Rechte aberkennen will, stellt das lieber als defensiven Akt dar und gaukelt so vor, es handle sich um eine passive Reaktion, in die man gedrängt worden sei.

Lieber Faschismus als Wärmepumpen?

Da plant die Regierung ein neues Heizungsgesetz, und man hat einfach keine andere Wahl, als sich für den Faschismus zu entscheiden – wer kennt es nicht? Dieses Framing erinnert stark an Tucker Carlson, der 2021 in seiner Show auf Fox News verkündete, die Radikalität der Demokraten würde Amerikaner*innen innerhalb der nächsten Jahre dazu zwingen, einen Faschisten zu wählen. Auch hier: Faschismus-Unterstützung als Notwehr.

Beunruhigend ist, dass auch Martin Schirdewan, Co-Parteivorsitzender der Linken, neben Kritik an CDU/CSU und FDP das Narrativ von der Unbeliebtheit der Bundesregierung und ihrem bösen Heizungsgesetz als Ursache für den AfD-Sieg wiederholt.

Man möchte schreien – und auf zig politikwissenschaftliche Studien verweisen, die allesamt zeigen, dass die Übernahme rechter Narrative nur einer Gruppe hilft: Rechten. Der Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky sagte mir dazu: „Es gibt keinen Nachweis dafür, dass eine rechtere Orientierung funktioniert. Ich würde sogar sagen: Wenn die Union den Anti-Eliten-Frame gegen die Grünen spielt, schert sie noch weiter aus dem Cordon sanitair aus. Das dürfte die AfD noch hoffähiger machen.“

Merz hatte schon im Voraus die alte Mär von der AfD-Unterstützung als Form des „Protests“ aus der Mottenkiste geholt – auch wenn die ebenfalls längst widerlegt ist. Menschen wählen rechtsextreme Parteien, weil sie rechtsextreme Politik wollen und sich von ihr Vorteile versprechen.

Reaktionäre Kulturkampf-Bingo-Karte

Die zunehmende Verharmlosung rechts-autoritärer und nationalistischer Positionen finden wir auch bei einigen rechten politischen Kommentator*innen, wie zum Beispiel bei Jan Fleischhauer. Der klapperte in seiner FOCUS-Kolumne die Top 5 Schlagworte deutscher rechter Kulturkämpfer zum linken Feindbild ab: „Haben die Leute, die Claudia Pechstein für eine Rassistin halten, eine Vorstellung, wie es im normalen Deutschland aussieht, also in dem Teil, der nicht auf gewachster Altbaudiele in durchgrünter Innenstadtlage mit Lastenfahrrad vor der Tür lebt?“ Lastenfahrrad, Stadtbewohner*innen, Gender-Beauftragte(r) – es fehlte nur noch die Erwähnung des Hafermilch Latte Macchiatos, dann wäre die reaktionäre Kulturkampf-Bingo-Karte voll gewesen. Auch Fleischhauer haut in die AfD-Kerbe, dass Dinge, die Pechstein gesagt habe, nicht rechtsextrem seien, sondern „normal“, und schreibt:

„Denn auch das ist wahr: Normalität kommt von Mehrheit.“ Nur dass die Gewalt der Norm, die Fleischhauer hier evoziert, in ihrer Queerfeindlichkeit, Engstirnigkeit, ihrem Rassismus und ihrer Intoleranz nicht reflektiert wird, sondern als löbliches, strebsames „Spießertum“ glorifiziert wird. Fleischhauer legt das an den Tag, was der Soziologe Wilhelm Heitmeyer „rohe Bürgerlichkeit“ nennt:

„Am meisten Sorgen bereitet mir, dass die AfD inzwischen anschlussfähig ist für Gruppen, die ich als ,rohe Bürgerlichkeit’ bezeichne, die hinter einer glatten Fassade mit einem Jargon der Verachtung gegenüber Minderheiten ihre Sympathien für eine autoritäre Partei ausdrücken. Dieses Potenzial ist in Westdeutschland noch weitgehend unausgeschöpft. Zugleich distanziert sich diese Klientel vom klassischen Rechtsextremismus mit Gewaltorientierung – gilt also als Mitte der Gesellschaft.“ 

„Rohe Bürgerlichkeit“

Fleischhauer schreibt in seiner Kolumne zwar nicht von „deutschen Tugenden“, aber es fehlt nicht mehr viel. Auch Ulf Poschardt beklagt, dass rechtsextremen Wähler*innen nicht genug Respekt entgegengebracht werde: „die krönung politisch hilfloser rhetorik ist jetzt die wählerbeschimpfung #Sonneberg” [sic], twitterte der WELT-Chefredakteur. 

Es ist eine klassische Taktik der Rechten: die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft als Attacke auf das „echte Volk“ darzustellen, das dann leider, leider, gezwungen sei, den Faschismus zu wählen. Je pluralistischer und demokratischer eine Gesellschaft wird, desto stärker ist der Backlash der Kräfte, die emanzipatorische Bewegungen marginalisierter Gruppen als Angriff auf die eigene politische und kulturelle Deutungshoheit sehen. Die Mär der „abgehängten“ Wähler*innen, die aus rein wirtschaftlichen Gründen rechte Parteien wählen, ist längst widerlegt – und so ist auch Sonneberg ein wirtschaftlich florierendes Städtchen, die Arbeitslosenquote liegt unter dem Bundesdurchschnitt. 

Eine dritte Strategie, die man im Nachspann des Sonnenberg’chen AfD-Erfolgs beobachten kann, ist die Normalisierung und Entpolitisierung von völkischer, rechts-nationalistischer Politik unter dem Banner der Überparteilichkeit. So twitterte die Junge Union Sonneberg am 25. Juni: „Wir gratulieren Robert Sesselmann zum Gewinn der Stichwahl um den Landratsposten. Jetzt gilt es Ideologie und Wahlkampfrhetorik beiseitezulegen und in sachorientierte Politik für unseren Landkreis einzusteigen“ [sic]. Übergang zum Alltag bitte und bitte keine Politisierung der Zusammenarbeit mit Faschist*innen, denn das wäre wohl nicht „sachorientiert“. Mittlerweile wurde der Tweet gelöscht. Die viel beschworene „Brandmauer“ nach rechts bei der CDU, die seit längerem eher einem Gartenzaun gleicht, über den man ein nettes Pläuschchen halten kann, hat hier ein Tor – und es steht sperrangelweit offen.

Sonneberg ist keine Zäsur, es ist nur der weitere Rechtsruck

Vielerorts kann man jetzt lesen, die Wahl von Sonneberg sei eine politische Zäsur. Eine Zäsur impliziert einen Einschnitt, eine plötzliche Veränderung – nichts davon ist hier der Fall. Stattdessen ist die Wahl des AfD-Manns Sesselmann die logische Konsequenz einer stetigen Diskursverschiebung nach rechts, vorangetrieben und möglich gemacht durch Parteien der „bürgerlichen Mitte“, die rechte Narrative übernommen haben – gegen jede politikwissenschaftliche Erkenntnis, die uns zeigt, dass man viele Wähler*innen, die man an rechtsextreme Parteien verloren hat, nicht zurückholen kann, indem man versucht, deren politische Positionen zu imitieren.  

Gegenüber dem Philologie-Magazin warnt der Soziologe Heitmeyer davor, AfD-Wähler*innen als „Protestwähler“ zu bezeichnen:

„Positionen gegen die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie sind unter AfD-Wählenden jedenfalls sehr weit verbreitet und vor allem stabil. Insofern halte ich den Begriff Protestwähler für komplett verharmlosend. Damit versucht sich die institutionalisierte Politik seit jeher zu beruhigen. Die Vorstellung, die verloren gegangenen Wähler kämen zurück, wenn man kurz mal die Begriffe der Rechten übernimmt, ist irrig. Jene Mentalitäten, die die Menschen dazu bringen, AfD zu wählen, existierten schon lange vor ihrer Gründung, waren aber parteipolitisch ungebunden. Nun haben sie eine feste Anschlussstelle. Das erklärt auch die stabile Wählerschaft. Hinzu kommt, dass es der AfD gelungen ist, vor allem Nicht-Wähler aus ihrer wutgetränkten Apathie zu holen.“ 

Es sieht derzeit nicht so aus, als würde diese Erkenntnis bei den Verantwortlichen von CDU/CSU und einzelnen FDPler*innen landen. Und das ist brandgefährlich – denn bisher sieht es nicht danach aus, als würden sie von ihrem Kurs der Verharmlosung und Aneignung rechter Rhetorik und Normalisierung der dahinter steckenden Politik zurückweichen. Es wird ihnen nichts nützen. 

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