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Wir haben nachgefragt: Viele Ministerien ignorieren die neue, gefährlichere Corona-Mutation

von | Jan 8, 2021 | Aktuelles, Bericht, Corona, Gesundheit

Anfragen an Bundesländer: Viele Ministerien ignorieren neue Corona-Mutation.

Philip Kreißel, Cornelius Römer

Am Sonntag haben wir von der neuen Corona-Variante aus Großbritannien berichtet: Es kann als wissenschaftlich sehr gut belegt gelten, dass die neue Corona-Mutation (B 1.1.7.) sich deutlich schneller ausbreitet ( Quelle ). Wenn diese Corona-Mutation auch in Deutschland Fuß fassen würde, wäre vermutlich sogar der aktuelle Lockdown nicht mehr ausreichend, um eine unkontrollierte Ausbreitung zu verhindern. In England kollabiert deshalb gerade das Gesundheitssystem, Patient:innen bekommen nicht genug Sauerstoff, lebensrettende Krebs-Behandlungen finden nicht mehr statt ( Quelle ). Hier unser Artikel:

Corona ist mutiert & damit viel gefährlicher: Was wir jetzt tun müssen

In Dänemark liegt dank vermehrter Sequenzierung bereits ein viel besseres Bild vor als für Deutschland: Der Anteil der neuen Corona-Mutation verdoppelt sich dort jede Woche. In der Konsequenz verschärft das Land bereits massiv die Maßnahmen ( Quelle ). Modellrechnungen des Landes legen nahe, dass nur ein R-Wert von unter 0.7 auch die neue Variante so eindämmen kann, dass ein extremes Anwachsen der Fallzahlen im Februar (!) verhindert wird ( Quelle ).

Daher muss jetzt eigentlich so schnell wie möglich gehandelt werden

Ist die Ausbreitung der neuen Corona-Mutation noch gering, lässt sie sich noch leichter gezielt eindämmen. Bisher sind jedenfalls bei “Nextstrain” keine Sequenzen der neuen Variante gelistet, die komplett ohne Bezug zu Großbritannien sind ( Quelle ). Das liegt aber wohl auch daran, dass mangels Kapazitäten vor allem Fälle mit Bezug zu Großbritannien sequenziert wurden. Kommt es erst zu großflächigen Verbreitung, sind viele Maßnahmen zu spät und es hilft nur noch ein andauernder und teurer Lockdown. Daher gilt: Jeder Tag zählt.

Wir wollten daher von Kultus- und Gesundheitsministerien der Länder wissen, wann wir mit ersten Ergebnissen der sicherlich massiven Gegenmaßnahmen gegen die größte Gefahr, der Deutschland gerade gegenübersteht, zu rechnen haben. Die Rückmeldungen sind erschreckend. Die Ministerien ergreifen meist gar keine eigenen Gegenmaßnahmen und verweisen nur auf die Charité oder das RKI. Teilweise wird die Gefährlichkeit der neuen Variante geleugnet oder werden Gegenmaßnahmen als “zu schwierig” abgetan. Die Charité beantwortete hingegen unsere Anfrage “wegen Überlastung” gar nicht.

Unser Fragenkatalog

Um den aktuellen Stand der Informationen bei den Entscheidern in den Gesundheits- und Kultusministerien abzuklopfen, hatten wir letzten Samstag an alle 16 Länder wir unter anderem folgende Fragen geschickt.

  • Wie viele Fälle mit der neuen Mutation sind dem Ministerium bekannt?
  • Wie hoch ist der geschätzte Anteil der UK-Mutation in Deutschland?
  • Welche Erkenntnisse liegen dem Kultusministerium zur offenbar stärkeren Übertragbarkeit der neuen SARS-CoV-2 Variante unter jüngeren Menschen vor?
  • Gibt es Hinweise, dass unkontrollierte Schulöffnungen die neue Variante begünstigen könnten?
  • Welche Projekte sind dem Ministerium bekannt, die versuchen den Anteil zu bestimmen?
  • Und welche Bestrebungen gibt es, den Anteil über die Zeit zu verfolgen?
  • Welche breitflächigen Sequenzierungs-Maßnahmen sind geplant?
  • Was sagen Ihre Modelle für die Ausbreitung der neuen Variante in Deutschland voraus?
  • Wann ist nach Ihren Projektionen mit einer Überlastung des Gesundheitswesens durch die neue Variante zu rechnen?
  • Werden diese Informationen demnächst regelmäßig veröffentlicht werden?
  • Welche Instrumente stehen zur Verfügung, sollte so wie in Großbritannien ein harter Lockdown nicht ausreichen, um die Variante einzudämmen?

Viele Ministerien verwiesen darauf, dass die gesetzte Frist von Montag 14:00 zu kurz angesetzt war. Aber stimmt das? Diese Ausrede ist viel eher ein Zeichen, dass die Ministerien einfach überhaupt keine Ahnung haben, was sie zum Thema sagen sollen, weil sie den wissenschaftlichen Diskurs zum Thema offenbar nicht verfolgen. Jeder Tag zählt. Nur ist das offenbar noch nicht in den Ministerien angekommen.

Auch zeigen die oft stark verspäteten Antworten, dass kaum sonst jemand aus der Presse schon ähnliche Fragen gestellt haben muss, sonst hätten die Pressestellen ja einfach die Antworten auf deren Fragen per Copy&Paste übernehmen können.

Kein einziges Ministerium antwortet mit konkreten Maßnahmen, um die neue Mutation öfter zu detektieren.

Ein Kultusministerium leugnet sogar die Gefahr

Eine Antwort auf unsere Anfrage ist vielleicht aussagekräftiger, als sich die Mitarbeiter dort gewünscht haben:

“Da momentan noch keine wissenschaftlichen Belege darüber vorliegen, dass die neue Variante tatsächlich mit einer höheren Ansteckungsfähigkeit einhergeht, wird auf die Informationen des RKI verwiesen.”

Also das Kultusministerium eines Bundeslandes gibt offen zu, dass sie sich nicht mit der neuen Variante und den neusten Erkenntnissen dazu befasst haben. Hier zum Vergleich das Assessment der ECDC vom 29. Dezember, also von vor mehr als einer Woche (Jeder Tag zählt!!):

„ECDC assesses that the probability of [the new Mutations] being introduced and further spread in the EU/EEA is currently high . Although there is no information that infections with these strains are more severe, due to increased transmissibility the impact of COVID-19 disease in terms of hospitalisations and deaths is assessed as high , particularly for those in older age groups or with co-morbidities. The overall risk associated with the introduction and further spread of SARS-CoV-2 VOC 202012/01 and 501.V2 is therefore assessed as high .

[…] The impact of this increased pressure on health systems is considered to be high even if current public health measures are maintained. Therefore, the overall risk of an increased impact on health systems in the coming weeks is assessed as high (Quelle).“

Übersetzt:

„Nach Einschätzung des ECDC ist die Wahrscheinlichkeit, dass [die neuen Mutationen] in die EU/den EWR eingeschleppt werden und sich dort weiter verbreiten, derzeit hoch. Obwohl es keine Informationen darüber gibt, dass Infektionen mit diesen Stämmen schwerer verlaufen, wird die Auswirkung der COVID-19-Erkrankung in Form von Krankenhausaufenthalten und Todesfällen aufgrund der erhöhten Übertragbarkeit als hoch eingeschätzt, insbesondere bei Personen in älteren Altersgruppen oder mit Komorbiditäten. Das mit der Einschleppung und weiteren Verbreitung von SARS-CoV-2 VOC 202012/01 und 501.V2 verbundene Gesamtrisiko wird daher als hoch eingeschätzt.

[…] Die Auswirkungen dieses erhöhten Drucks auf die Gesundheitssysteme werden als hoch eingeschätzt, selbst wenn die derzeitigen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit beibehalten werden. Daher wird das Gesamtrisiko einer erhöhten Auswirkung auf die Gesundheitssysteme in den kommenden Wochen als hoch eingeschätzt .“

Arbeitsverweigerung in einem Bundesland:

Expert:innen haben uns bestätigt, dass Sequenzierungen der beste Weg sind, um die neue Corona-Mutation frühzeitig aufzuspüren. Wird das Virus frühzeitig irgendwo entdeckt, gibt es noch die Chance, einen Ausbruch der neuen Corona-Mutation durch Kontaktverfolgung auszubremsen.

Die meisten Ministerin haben die Frage nach geplanten Sequenzierungs-Maßnahmen nicht beantwortet. Ein angefragtes Bundesland hingegen gibt offen zu, dass eine gezielte Suche nach der Mutation nicht geplant ist.

“In [Bundesland] wird derzeit nicht aktiv nach der genannten Mutation des Coronavirus gesucht. Breitflächig angelegte Sequenzierungs-Maßnahmen erscheinen vor dem Hintergrund der aktuell weiterhin sehr hohen Fallzahlen und des damit verbundenen enormen Aufwands nicht praktikabel.”

Doch statt mit aller Kraft auf die neue Variante zu reagieren und alle verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren, wird in diesem Bundesland offenbar einfach… kapituliert.

Versäumnisse auf höchster Ebene

Um auf die Variante gezielt reagieren zu können, muss man wissen, wo sie bereits vorkommt und wie weit verbreitet sie ist. Doch darin versagt Deutschland komplett, wofür sich auch das Bundesgesundheitsministerium zu verantworten hat.

In einem NDR/WDR/SZ Artikel äußert sich der Leiter der Virologie der Universität Freiburg, Hartmut Hengel, wie folgt:

„Wir sind in Deutschland, was die molekulare Überwachung des Coronavirus angeht, wirklich miserabel. Wir sequenzieren ohne repräsentative Probenerfassung auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.“

Deutschland schadet sich damit nicht nur selbst, sondern auch der internationalen Gemeinschaft. Deutschland ist für Virusmutationen gewissermaßen ein schwarzes Loch. Nur dank der guten Sequenzierungsleistung in Großbritannien, Dänemark, und Südafrika wissen wir um die Bedrohung durch die Varianten und können dadurch darauf reagieren (zumindest in der Theorie).

Nur eine von 900 positiven Proben wird sequenziert

Momentan wird in Deutschland nur eine von 900 positiven Proben sequenziert, zu Kosten von ca. 100 Euro pro Sequenz. Das Budget, welches die Bundesregierung zur Verfügung stellt, erlaubt nicht mehr. Unser Nachbarland Dänemark hingegen, sequenziert eine von 10 positiven Proben. Also 90-mal mehr. Die Laborkapazitäten stünden offenbar bereit, es mangelt ausschließlich an der Finanzierung und politischem Willen. Die Gesamtkosten sind in jedem Fall vernachlässigbar und würden 1% der totalen PCR-Test-Kosten nicht übersteigen.

In der letzten Bund-Länder-Konferenz wurde beschlossen, dass das Gesundheitsministerium eine Sequenzierungsverordnung erlässt. Doch die Umsetzung lässt noch auf sich warten. Laut Deutschem Ärzteblatt werde diese Verordnung erst in den nächsten Wochen erlassen. Angesichts der schnellen Ausbreitung der Mutation ist dieser Zeitraum viel zu lange. Und das, obwohl Expert:innen schon 2019 Jens Spahn darauf hingewiesen hatten und eine Sequenzierung nicht viel teuer ist als ein PCR Test ( Quelle ). Und darüber hinaus müsste man ja nur positive PCR-Ergebnisse sequenzieren, um die neue Variante zu finden.

Was das RKi sagt:

Das RKI verwies in seiner Antwort auf unsere Anfrage lediglich auf die bereits öffentlich verfügbaren spärlichen Informationen auf ihrer Website. Es gibt keinerlei Information über die Gesamtzahl der in Deutschland detektierten Fälle der britischen oder südafrikanischen Corona-Mutation. Die Zahl liegt bisher laut Medienberichten irgendwo im einstelligen Bereich.

Noch wichtiger als die absolute Zahl der Nachweise ist der relative Anteil der Variante, den man durch repräsentative Stichproben erheben könnte. Je höher, umso weniger Zeit haben wir, bis sich die erhöhte Übertragbarkeit sichtbar macht. Länder wie Luxemburg, Dänemark, Portugal oder Irland schaffen dies. Deutschland hingegen scheitert.

Immer ist jemand anderes zuständig

Viele der Kultusministerien haben uns einfach nur geschrieben, dass wir unsere Anfragen ans Gesundheitsministerium des Landes schicken sollten. Viele Gesundheitsministerien wiederum verwiesen ans RKI und an die Charité.

Es erscheint schlicht so, dass niemand Eigenverantwortung im Angesicht der neuen Gefahr zeigt, sondern schlicht darauf hofft, dass es schon jemand anderes richten wird.

Die Kultusministern der Länder, die eigentlich für weitere Schulschließungen entschieden haben, scheinen sich nicht über den aktuellen wissenschaftlichen Stand im Klaren zu sein. Dies führt zur Gefahr, dass Schulen in einzelnen Bundesländern, wie zum Beispiel in Berlin, zu früh geöffnet werden, obwohl wir uns über das Ausmaß der Ausbreitung der neuen Variante in Deutschland gar nicht im Klaren sind. Es führt außerdem zur falschen Sicherheit in den Ländern, dass die Schulen schon bald wieder öffnen können. Dabei muss jetzt ENDLICH Digital-Unterricht in der Breite eingeführt werden.

Die Länder bestimmen in der MPK mit, wenn es um die Maßnahmen geht. Gleichzeitig verweigern sie sich der neuen Herausforderung. Und sind darüber schlecht informiert.

Fazit

In Deutschland sind viele Entscheider:innen offenbar nur unzureichend über die neue Corona-Mutation informiert.

Die Ministerien sind stellenweise voll in Arbeitsverweigerung unterwegs: Es sind in keinem Bundesland großflächigen Sequenzierungen geplant, obwohl das der EINZIGE Weg wäre, die neue Variante ausfindig zu machen.

Wir sind aktuell komplett im Blindflug. Dabei wäre dieses Wissen entscheidend bei der Frage, ob wir überhaupt eine Chance haben, die neue Virus-Mutation noch einzudämmen. Es ist zu befürchten, dass die Arbeitsverweigerung in manchen deutschen Ministerien noch zu tausenden zusätzlichen Todesfällen und vermeidbaren Lockdowns führen wird. Kurz vor dem entscheidenden Impf-Sieg über das Virus ist das ein vermeidbarer Rückschlag.

Autoren: Philip Kreißel, Cornelius Römer. Artikelbild: Uwe Anspach/dpa


Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI: