Dass das Boulevardmagazin Bild ein sehr angespanntes Verhältnis zur Wahrheit, journalistischen Grundsätzen und Differenzierung im Allgemeinen hat, ist nichts sonderlich Neues. Das Stück zur Stromversorgung Deutschlands von letzter Woche ist aber selbst gemessen an Bild-Standards ein Ausdruck chaotischer Arbeitsorganisation und völlig fehlender Kompetenz in Fragen von Energiepolitik und Wirtschaft im Allgemeinen. Nein, Deutschland braucht keinen Atomstrom aus Frankreich und die BILD verbreitet mal wieder Desinformation.
Desinformation, die von willigen Populisten in der FDP und Union dann wieder reproduziert wird. Wenn Bild gerade ohnehin jemanden sucht, um der Redaktion die Funktion einer Wärmepumpe zu erklären, wie wäre es mit einem BWL-Erstsemester, das dann auch gleich das Lektorat von Felix Rupprechts Artikeln übernimmt?
„BILD“ hat nicht im Ansatz verstanden, wie der deutsche Strommarkt funktioniert
Felix wer? Felix Rupprecht, so eine Art Redakteur, aber offenbar komplett ohne notwendige Recherche-Kenntnisse oder Kompetenz in Energiefragen. Dennoch (oder gerade deswegen?) erfreuen sich seine Artikel reger Beliebtheit bei Jens Spahn, dem energiepolitischen Sprecher der Union – was wiederum erklären könnte, warum Spahn immer wieder mit hochnotpeinlichen Aussagen zum Strommarkt auffällt.
Felix Rupprechts Artikel der letzten Woche fabulierte eine Abhängigkeit von französischen Kernkraftwerken herbei, garniert mit zwei vollkommen abwegigen Erklärungen. Er hat offenbar sowohl die Funktion des europäischen Strommarkts als auch die jüngste Analyse der Bundesnetzagentur nicht verstanden (oder nicht gelesen) und fabuliert nun aufgrund selbiger Analyse eine Stromlücke herbei, die wir nur mit französischer Atomkraft decken könnten, weil unsere eigenen Atomkraftwerke abgeschaltet wurden. Daran stimmt nur so gut wie gar nichts.
Fehlerhafte Begründung 1
Rupprecht schreibt:
“Fest steht: Deutschlands Stromimporte steigen. Von Januar bis März kaufte Deutschland 12,1 Millionen Megawattstunden (MWh) Strom im Ausland ein, plus 15,2 Prozent zum Vorjahr. Im Gegenzug verkaufte Deutschland 21,3 Millionen MWh ins Ausland, minus 9,8 Prozent.”
Er vergleicht hier das erste Quartal 2022 mit dem ersten Quartal 2023, also zwei Zeiträume, in denen Deutschland gar kein (weiteres) Atomkraftwerk abgeschaltet hat. Wie auch immer sich Deutschlands Importe in dieser Zeit geändert haben, mit den deutschen Atomkraftwerken dürfte es wenig zu tun haben, diese erzeugten in beiden Quartalen ähnlich viel Strom.
Er fährt fort:
Und seit April importieren wir mehr Strom, als wir exportieren. Die meiste Energie aus Frankreich und Dänemark.
Das stößt auch in der Ampel auf Unverständnis. FDP-Energieexperte Michael Kruse (39) zu BILD: „Die Energiewende der Grünen basiert maßgeblich auf Atomstrom aus Frankreich.“
Garniert wird die Aussage mit dieser Statistik:
Bei der Betrachtung könnte man in der Tat schnell den Eindruck gewinnen, den der Artikel vermitteln will: Dass die Abschaltung unserer Atomkraft unmittelbar eine starke Import-Abhängigkeit verursache. Wer sich aber auch nur ansatzweise mit der deutschen Stromversorgung auskennt, sieht schnell, dass eine solche Entwicklung für das Sommer-Halbjahr ziemlich normal ist: Auch 2019, 2020 und 2021 stieg der Import in den Sommermonaten aus dem europäischen Ausland an, ohne dass Deutschlands Atomkraftwerke damals ihre Leistung verändert hätten.
Deutschland importiert in vielen Sommern mehr!
Die Atom-Erklärung der “Bild” ist für alle Menschen, die sicher im Zahlenraum bis 10 Terawattstunden unterwegs sind, ohnehin zum Schreien komisch, versucht Felix Rupprecht hier eine Importzunahme von 5,5 Terawattstunden mit der Abschaltung deutscher Atomkraftwerke zu erklären, die pro Monat aber nur 2 Terawattstunden Strom erzeugt haben.
Ganz grundsätzlich scheinen sowohl er als auch die zitierten “Experten” von Union und FDP gar nicht verstanden zu haben, wie der Strommarkt funktioniert bzw. warum Deutschland Strom importiert und exportiert. Es ist nämlich mitnichten so, dass wir grundsätzlich zu wenig Kraftwerke haben und uns deswegen nur die Wahl zwischen Importen und Stromausfall bleibt: Wir importieren grundsätzlich immer dann Strom, wenn das billiger ist, als ihn selbst zu erzeugen. Auch wenn wir selbst noch dutzende Kraftwerke hochfahren könnten, tun wir das, und das ist gerade im Sommer oft der Fall, weil Strom aus dem Ausland dann recht günstig zu haben ist.
Das ist ein Feature, kein Bug: Anstatt in Deutschland fossile Brennstoffe zu verstromen, nutzen wir im Sommer die (meist saubereren) Kapazitäten unserer Nachbarstaaten. Wir hätten die paar importierten Terawattstunden im Mai auch ziemlich einfach selbst erzeugen können, denn unsere fossilen Kraftwerke waren da ziemlich gelangweilt: Unsere Braunkohlekraftwerke waren nur zu 39 Prozent ausgelastet, die Steinkohlekraftwerke zu 9,5 Prozent und Gaskraftwerke zu 16,5 Prozent. Wenn unsere europäischen Nachbarländer aber selbst ordentlich Strom erzeugen und dann noch wenig verbrauchen, geht der Preis entsprechend runter und es lohnt sich für uns, mehr zu importieren.
Nur ein Bruchteil des Stroms kommt aus Frankreich
Ferner kommt auch nur ein Teil des Importstroms aus Frankreich. Wir haben 9 direkte Nachbarländer und zusätzlich noch Stromleitungen nach Schweden und Norwegen, sodass im Mai nur 28 Prozent des Importstroms aus Frankreich kam (eine Terawattstunde). Dieser Strom aus Frankreich machte wiederum nur 3 Prozent unseres Stromverbrauchs im Mai aus. Wer aus diesen Zahlen schließt, wir seien darauf angewiesen, sollte vielleicht generell beruflich etwas mit weniger Zahlenbezug machen. Energiepolitischer Sprecher der Union zum Beispiel (Jens Spahn), der im Artikel zitiert wird mit
“Ohne Kernkraft aus Frankreich wären wir aufgeschmissen.”
Nein, wären wir nicht. Der energiepolitische Sprecher scheint nicht zu wissen, über welche Kraftwerke Deutschland verfügt und wie viel Strom Deutschland benötigt. Dass hier überhaupt ein FDPler und ein CDUler den Atomausstieg als “Energiewende der Grünen” framen, obwohl die FDP die meisten Atomkraftwerke abgeschaltet hat und Jens Spahn im Jahr 2011 höchstpersönlich für den Ausstieg gestimmt hat, rundet den vollkommen grotesken Eindruck nochmal ab.
Fehlerhafte Begründung 2
Sein zweites Argument bezieht sich auf die Bedarfsanalyse der Bundesnetzagentur, er schreibt:
Der Strom in Deutschland reicht aus – wenn wir Kernkraft aus Frankreich importieren!
Das ist das Ergebnis der jüngsten Analyse der Bundesnetzagentur. Danach kommt Deutschland auch gut durch den nächsten Winter, wenn die AKW-Meiler in unserem Nachbarland laufen.
Auch das ist ausgemachter Quatsch, denn die von ihm erwähnte Bedarfsanalyse untersucht den Bedarf an Netzreserve für den kommenden Winter, nicht den Bedarf von Importen:
Die Netzreserve ist dazu da, im Winter das Stromnetz stabil zu halten: Im Winterhalbjahr erzeugt die Windkraft an manchen Tagen so viel Strom im Norden, dass wir ihn nicht komplett verwenden können, auch wenn im Süden eigentlich Bedarf dafür wäre. Grund sind die für den Transport notwenigen Stromtrassen. Damit die Netze an solchen Tagen nicht überlastet werden, müssen wir leider einen Teil der Windkraft abschalten und stattdessen fossile Ersatzkraftwerke im Süden hochfahren, was nicht nur klimaschädlich, sondern auch teuer ist. Kritik an diesem Unsinn könnt ihr gerne in die bayerische Staatskanzlei senden, wo die CSU dieses Thema über Jahre fulminant verschlafen oder bewusst verzögert hat.
Solange die Trassen nicht fertig sind und der Windkraftausbau im Süden zu langsam vorankommt, wird dieses Problem fortbestehen und die Bundesnetzagentur beschäftigen, die hierzu seit Jahren jährlich eine Analyse herausgibt, welche Kraftwerke als besagte Netzreserve in Frage kommen. Die Idee, das hätte nun auf einmal etwas mit der Ampel-Koalition zu tun, offenbart also erneut eine erschreckende Ahnungslosigkeit.
Frankreich ist eher von deutschem Strom abhängig
Felix Rupprecht fasst auch die Inhalte der Analyse selbst maximal unterkomplex und verzerrend zusammen mit:
Danach kommt Deutschland auch gut durch den nächsten Winter, wenn die AKW-Meiler in unserem Nachbarland laufen.
Nein, die französischen Atomkraftwerke werden in der Analyse gar nicht explizit erwähnt und das ist auch nicht verwunderlich: Im Winter exportiert Deutschland für gewöhnlich recht hohe Strommengen nach Frankreich, weil dort mitunter ineffiziente Elektro-Heizungen verwendet werden. Gerade beim Auftreten von Kältewellen kann das französische Stromnetz starken Belastungen unterworfen sein, die auch schon zu Stromspar-Maßnahmen in öffentlichen Pariser Gebäuden führten.
Das führt dazu, dass wir gerade im Winter hohe Strom-Exportüberschüsse nach Frankreich haben, seit 2015 war das für alle Quartale 1 und 4 der Fall. Entsprechend abwegig ist die Idee, dass die Bundesnetzagentur ausgerechnet französisch Atomkraft als deutsche Netzreserve einplant, denn die ist mitunter komplett mit der Stromversorgung französischer Heizungen beschäftigt.
Was die Bundesnetzagentur wirklich sagt
Was die Simulationen der Bundesnetzagentur tatsächlich ergeben, sind sogenannte Grenzsituationen mit hohen Lastspitzen in Deutschland und den Nachbarländern, und in dem Fall sind tatsächlich auch Kapazitäten im Ausland vorgesehen, um die Netzstabilität zu gewährleisten. Nur, dass die halt nicht in Frankreich liegen, sondern in Skandinavien:
“Die Stunde mit dem höchsten Netzreserveeinsatz im Betrachtungszeitraum 2023/2024 ist der NNF 282 (vgl. Abbildung 3). Diese Stunde ist geprägt von hoher inländischer Erzeugung im Norden und starken Importen aus Skandinavien bei gleichzeitig hoher Nachfrage in Süddeutschland und starkem Export in südliche und westliche Nachbarländer.” (Seite 32)
Ist zugegeben etwas kompliziert, aber es gibt auch schön Bilder zum angucken, und da hätte Felix Rupprecht fündig werden können:
In der Situation, für die die Bundesnetzagentur den höchsten Einsatz der Netzreservekraftwerke vorhersieht, exportiert Deutschland fluffige 4 Gigawatt nach Frankreich. Warum diese Studie der Bundesnetzagentur irgendeine Abhängigkeit von französischer Atomkraft belegen sollte, können vermutlich nicht mal der Bild-Mann, Jens Spahn oder Michael Kruse beantworten. Ein erster Schritt zu mehr Verständnis könnte sein, das Dokument überhaupt mal zu lesen.
Fazit: BILD hat den Strommarkt nicht verstanden
Man kann es eigentlich täglich auf Volksverpetzer lesen, aber noch einmal: BILD lügt. BILD verbreitet aktiv Desinformationskampagnen, in Zusammenarbeit mit bestimmten Politikern der FDP und der Union, um die Stimmung in Deutschland zu beeinflussen und Druck auf die Gesetzgebung zu machen. Das hat mit der massiven Desinformationskampagne gegen das Heizungsgesetz auch erfolgreich funktioniert. Wie massiv Lügen gestreut wurden, haben wir dokumentiert:
BILD versucht aktiv, die Energiewende hinauszuzögern und zu sabotieren. Nicht vergessen, dass BILD und WELT zum Axel-Springer-Verlag gehören, der zum einen dem Milliardär Mathias Döpfner gehört, der seine Zeitungen für gezielte Beeinflussung der Öffentlichkeit im Wahlkampf nutzt („Please stärke die FDP“) oder auch zu Teilen KKR, eines der weltweit größten private equity Firmen, die noch in fossile Energie investieren. Also nein, Deutschland ist nicht abhängig von Atomstrom aus Frankreich.
Artikelbild: canva.com/Screenshot bild.de