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Stell dir vor, es ist Kulturkampf – und keiner geht hin

von | Jun 20, 2023 | Aktuelles

Jens Spahn behauptete ernsthaft im Interview mit dem für Desinformation bekannten Blatt „WELT“, dass die Ampel einen „Kulturkampf“ gegen alle „normalen“ Deutschen führen würde. Dabei führt er vor allem das „Selbstbestimmungsgesetz“ an, welches zu etwas mehr Rechten für weit unter 1 % der Bevölkerung führen soll. Es ist erstmal das Recht von Jens Spahn in Politik einen „Kampf“ zu sehen. Kampf heißt aber normalerweise, dass es einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Entweder ein Gesetz wird beschlossen, dann bin ich der Gewinner, oder eben nicht, was eine schmachvolle Niederlage wäre. Jens Spahn darf das natürlich gerne so sehen. Aber wollen wir alle da mitmachen?

Sach-Debatte gegen Gruppenzwang

Eigentlich sollte eine Debatte doch so ablaufen: Es gibt ein Problem. Wir identifizieren das Problem. Wir besprechen mögliche Lösungen. Und wir implementieren die möglichst beste Lösung. Die Regierung führt Sachargumente für ihre Position an, die eine konstruktive Opposition kritisiert und bessere Lösungen für das Problem vorschlägt. Am Ende gewinnen alle ein bisschen. Dass das nach Utopie klingt, zeigt nur, dass etwas schiefläuft. Denn so könnte eine Demokratie auch funktionieren. An welcher Stelle führt hier ein „Kampf“ zu einer besseren Lösung? 

In der althergebrachten „Kampfkultur“ von Spahn & Co. läuft es anders. Da wird so lange wild gestritten, bis irgendjemand so ermüdet ist, dass er nachgibt. Das muss ja der mit den schwächeren Argumenten gewesen sein, oder? In der Netzkultur 2.0 können da sogar alle mitmachen und sich mit Hass und Häme, sogar Drohungen überschütten, das hat die politische Kultur wirklich gebraucht. Oder der wird halt mal von einem Neonazi ermordet, ne?

Der Kampf aber führt auch in den Gruppenzwang. Wer nicht ordentlich mitkämpft, weil er auch mal dem „Gegner“ Recht gibt oder auch nur objektive Fakten wiedergibt, die diesem vermeintlich helfen, der steht gleich im Verdacht, ein „Verräter“ zu sein. 

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Für Klimaschutz und für Atomkraft sein, darf man das überhaupt gleichzeitig? Besonders problematisch wird die Sache, wenn es kaum vernünftige Gegenargumente gibt, aber man trotzdem dagegen sein MUSS, weil ist ja der Gegner, ne? Da beginnen dann gerne Verschwörungsmythen und Desinformation zu sprießen. Ist ja auch viel einfacher als sich wirklich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Wir sollten uns an Fakten und Wissenschaft orientieren, und nicht was „unsere“ Blase für gut und richtig hält und blind der Herde nachlaufen.

Im Kulturkampf gewinnt der „Kampf“

In den USA wird dieser „Kampf“ jetzt schon etwas länger als hier geführt. Hier das Ergebnis im Bereich „Ehe für alle“, das könnte ja Jens Spahn und seinen Ehemann durchaus interessieren: 

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Es ist kein Ende in Sicht. Republikaner werden dort jedes Jahr immer konservativer. Es setzt sich eben immer mehr eine „Kampfkultur“ durch, in der man für Zugehörigkeit den „Gegner“ schlecht finden muss. Das geht dann so weit, dass ein gewalttätiger Mob dein Büro stürmt, dich hängen sehen will und du dich hinterher trotzdem hinstellen musst, und die verteidigst, weil es ja „deine“ Leute sind. Wenn nur noch das Freund-Feind-Schema wichtig ist, aber nicht mehr Werte oder Fakten.

In Großbritannien hat der immer aufgeheiztere Diskurs sogar dazu geführt, dass das Land aus der EU ausgetreten ist. Es wird immer klarer, dass der Brexit besonders in der „harten“ Form eine idiotische Entscheidung war. Das kam eben auch deswegen zustande, weil jeder, der zu Zugeständnissen an die EU bereit gewesen wäre, als Verräter galt. Aktuell vertrauen die Briten der EU mehr als ihrer eigenen Regierung, obwohl sie die EU gar nicht gewählt haben. 

Konservative verlieren überall, Faschisten gewinnen

In Italien regieren jetzt nicht mehr die Konservativen – sondern die Faschisten. Auch in Frankreich sind die Konservativen bei 10 % gelandet. Gegen Sebastian Kurz in Österreich läuft ein Strafverfahren. „Der Konservatismus liegt in Trümmern“, titelte das Handelsblatt. Alle diese Parteien haben sich auf den rechtspopulistischen Kulturkampf eingelassen und wurden dann die Geister, die sie riefen, nicht mehr los.

In den USA wurde eine ältere Dame verprügelt, weil der Täter sie für Trans hielt. Ein rechter Aktivist gab sich in Österreich als trans aus und belästigte Frauen in einer Damensauna. Der Kulturkampf ist gefährlicher für Frauen, als es mehr Rechte für trans Menschen je sein könnten. Wenn es euch um das Wohl von Kindern geht, die sich in ihrer Identität unsicher sind, ist dann wirklich die BILD-Titelseite oder ein Joke von Dieter Nuhr der beste Weg, um das zu diskutieren?

Das kann doch alles niemand ernsthaft wollen.

Konstruktiv statt Reaktiv

Soziale Medien zielen auf kurzfristige Empörung. Wut verbreitet sich dort schneller. So führen sie einfach vom Design der Plattformen her Richtung Kulturkampf. Denn die Wut richtet sich oft eben nicht gegen real existierende Probleme, sondern eben auch gegeneinander, oft mit erfundenen Argumenten. Dann sind „die Grünen“ plötzlich eine größere Bedrohung als der brutale Diktator Putin. Man muss die Partei nicht mögen, um zu sehen, dass das Quatsch ist.

Oft werden die schwierigsten Gestalten des politischen Gegners genutzt, um ihn als Ganzes zu diskreditieren. Moderatere fühlen sich dann genötigt, sich mit den Extremen zu solidarisieren. Eine Weile ging das gut, weil sich die Empörung der Demokraten vor allem gegen die AfD richtete und weniger gegeneinander. Aber was passiert, wenn die Grenze zur AfD verschwimmt und eine ehemals demokratische Partei plötzlich abdriftet?

Auch der Axel-Springer-Verlag macht sich diese Dynamiken zunutze. Die einzig erkennbare ideologische Ausrichtung, der er folgt, ist, uns weiter von fossilen Energien abhängig zu halten, solange es geht. Ansonsten folgt er einer brutalen ökonomischen Logik nach Klickzahlen und Abos, der Fakten vollkommen gleichgültig sind. Man kann Abos verkaufen, indem man Corona– und Impf-Lügen der Querdenker wiederholt? Ist der Verlag dabei. 

Blind einfach dagegen sein

Man folgt blind den Dynamiken in rechtsgerichteten Social Media Blasen. „I oppose the current thing” sozusagen, wenn man dafür den Klimawandel leugnen oder verharmlosen muss, dann ist das halt so. Von konservativen Werten keine Spur, einfach nur Kulturkampf und Fake News als Geschäftsmodell. Dort gilt sogar die konservative FAZ schon als „grün“ – eben weil sie faktenbasiert berichtet. Wer Fakten als „grün“ sieht und andere Meinungen gleich als „Feind“, der ist Teil des Problems.

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Aber das alles sind Entscheidungen von Menschen. Dabei ist ja gerade unsere Stärke als Menschen, dass wir das Umfeld, in dem wir leben, verändern können. Wie wir mit Wut umgehen, ist nicht gottgegeben, sondern eine Entscheidung. Es ist ja eigentlich gerade die Stärke von Konservativismus, den vermeintlichen „Zwängen“ von neuen Technologien wie Social Media nicht willenlos hinzugeben, sondern sie kritisch zu hinterfragen. Es ist ein Merkmal von zivilisierter Bürgerlichkeit höflich zu sein, das Gegenüber ausreden zu lassen und die eigene Meinung aufgrund von wissenschaftlichen Fakten zu bilden. Und eigentlich ist es allen doch klar, dass wir diese Art des Umgangs, wie sie Online allzu oft zu finden ist, nicht wollen. Dass wir konstruktiven und höflichen Umgang miteinander wollen. 

Radikale Höflichkeit

Natürlich haben hier Politiker und Politikerinnen der Union eine große Verantwortung, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen. Wenn Unionspolitiker vermehrt Falschmeldungen in die Welt setzen bzw nachplappern, dann müssen wir beispielsweise als Faktenchecker darüber aufklären, um unsere Leserinnen und Leser davor zu schützen. In der Kulturkampf-Arena wird das dann aber als „Angriff“ gewertet. Wir kennen es ja von der AfD: „Faktenchecker sind alle linksgrün versifft und vom Staat bezahlt.“ Nochmal: Volksverpetzer ist 100 % von unseren Lesern finanziert

Wenn Unionspolitiker Lügen über die Grünen verbreiten und wir dem widersprechen, dann nicht, weil wir die Union nicht mögen. In der Pandemie haben wir auch nicht die Union vor Lügen verteidigt, weil wir die Union mögen. Wir widersprechen Desinformation. Fakten sind nicht parteiisch.

5 Tipps, um den Kulturkampf zu beenden

Aber es lohnt sich eben dennoch, sich Gedanken zu machen, wie wir alle in unserer täglichen Kommunikation dem Kulturkampf etwas entgegenwirken können. Ziel muss sein, nicht auf jede Provokation zu reagieren. Oft ist ja Empörung genau das, was erreicht werden soll. Wichtig ist, Kulturkampf-Argumente sachlich und faktenbasiert zu widerlegen. Der Verein „kleiner Fünf“, der es sich zum Ziel gemacht hat, dass die rechtsextreme AfD unter 5%-Stimmen kommt, hat dabei eine Liste von Gesprächstipps gesammelt. Eigentlich als Leitfaden gegen die AfD gedacht, aber zur Zeit sind sie auch im Zuge der „Kulturkampf“-CDU anwendbar: 

Tipp 1: Bleibe ruhig, um Provokationen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Tipp 2: Hake nach, um dein Gegenüber besser zu verstehen. Versuche, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Widersprüche aufzuzeigen.

Tipp 3: Lass dich nicht mit Sprüchen und Verallgemeinerungen abspeisen. Frag nach konkreten Beispielen, oder liefere konkrete Gegenbeispiele, um gefährliche Verallgemeinerungen und Verzerrungen zu entlarven.

Tipp 4: Wäge deine Worte! Achte darauf, wie dein Gegenüber spricht und unterstütze Betroffene rechtspopulistischer Vorurteile.

Tipp 5: Agieren statt reagieren: Vertritt deine Themen – und brich das Gespräch ab, wenn dein Gegenüber nur herumpöbelt.

Wir brauchen keinen Kulturkampf

Es gibt so viele ernsthafte Probleme: Der russische Angriff auf die Ukraine, der Klimawandel, Wasserknappheit, die Inflation, Wohnraumknappheit und so weiter. Was hilft es uns da ein Kulturkampf? Die meisten Menschen hätten das Selbstbestimmungsgesetz nicht mitbekommen, weil sie schlicht andere Sorgen haben. Oder das Heizungsgesetz, was das betrifft. Das klingt vielleicht unglaublich, weil so viel Panikmache und Lügen verbreitet wurde. Aber hast du es je mitgekriegt, dass die Groko schon 2019 ein Verbot vom Neueinbau von Ölheizungen ab 2026 beschlossen hatte?

Gerade wenn die Lage schwieriger wird, ist es doch wichtiger vernünftige Debatten zu führen und keinen „Kulturkampf“. Dazu kann jeder beitragen, indem wir nicht auf jede Provokation hereinfallen.

Artikelbild: photocosmos1