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Faktencheck: Ist die Letzte Generation wirklich eine „kriminelle Vereinigung“?

von | Jun 8, 2023 | Faktencheck

Straßenblockaden, Sachbeschädigung und andere Protestaktionen für den Klimaschutz. Durch diese Protestformen hat die Gruppe Letzte Generation in der Vergangenheit immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Auch in der Klimabewegung wird viel darüber gestritten, ob die radikalen und auch kriminellen, aber friedlichen Aktionen zielführend sind. Denn obwohl selbst der Verfassungsschutz selbst bestätigt, dass die Gruppe nicht extremistisch ist – wird sie oft in eine derartige Ecke gestellt. Wie wir bereits analysiert haben, wird auch medial viel über die Gruppe und ihre Aktion falsch und verzerrt dargestellt.

Nun wird gegen sie ermittelt. Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Vorab jedoch: Das ist bisher nur ein Vorwurf. Wer das als Tatsache darstellt, hat bis jetzt Unrecht. Doch was ist bisher der Stand? Wie wahrscheinlich ist es, dass so entschieden wird?

Neue Strategien im Umweltaktivismus

Mittwochmorgen, 24. Mai 2023. Die Polizei durchsucht mit 170 Beamt:innen insgesamt 15 Objekte – Geschäftsräume und Wohnungen – von Mitgliedern der Letzten Generation in sieben Bundesländern. Ihre Website wird gesperrt und gegen sieben Aktivist:innen im Alter von 22 bis 38 Jahren ermittelt, darunter auch die Sprecherin Carla Hinrichs. Die Razzia erfolgt aufgrund eines Auftrags des bayerischen Landeskriminalamts und der Generalstaatsanwaltschaft München. Der Gruppe wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gebildet und mindestens 1,4 Millionen Euro Spendengelder eingeworben zu haben, um Straftaten zu begehen. Außerdem sollen zwei Personen im Frühjahr 2022 versucht haben, die Ölpipeline zwischen Ingolstadt und Triest zu sabotieren. Im Zuge der Razzia werden Vermögenswerte eingezogen und zwei Konten beschlagnahmt. Harte Einschnitte gegen die Aktivist:innen, auch unter dem Gesichtspunkt, dass bisher lediglich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.

Inzwischen erstatteten die Aktivist:innen eine Anzeige gegen die an der Razzia gegen Carla Hinrichs beteiligten Polizist:innen, in der ihnen Nötigung vorgeworfen wird.

Kontroverse Diskussionen über das Vorgehen der Justiz

Der Protestforscher Simon Teune kritisierte, dass ein übermäßiger Aufwand betrieben werde, um die „Blockierer:innen von der Straße zu bringen“, anstatt die zugrunde liegenden Ursachen anzugehen, die sie zu solchen Aktionen veranlassen. Er warnt davor, dass staatliche Repressionen keine erfolgversprechende Strategie für die Zukunft darstellen. Bisher weise die Klimabewegung ein starkes Vertrauen in demokratische Institutionen auf. „Aber wenn diese Institutionen den Aktivist:innen zunehmend feindlich gesinnt sind, kann sich das auch ändern“, warnt er.

Auch Amnesty International kritisierte die Kontosperrungen und Hausdurchsuchungen einiger Aktivist:innen. Auf Twitter erklärt Amnesty Deutschland: „Der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist schwer und folgenreich, Ermittlungen ermöglichen schwere Eingriffe in die #Grundrechte“ [sic]. Mit diesem Vorwurf bezieht sich Amnesty auf einen gravierenden Fehler der Staatsanwaltschaft: Der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung wurde auf der Webseite der bayerischen Polizei als Tatsache dargestellt. Diese Vorverurteilung widerspricht jedoch der Unschuldsvermutung. Später musste die Justiz diese Einschätzung zurücknehmen. Ein eklatanter Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien.

Die Neue Richtervereinigung, ein Zusammenschluss von Richtern und Staatsanwälten, beklagte einen „eklatanten Verstoß gegen die Unschuldsvermutung“. Das sei umso gravierender, da die rechtliche Diskussion über die Einstufung als „kriminelle Vereinigung“ von einer Klärung weit entfernt sei. Der Verdacht stehe im Raum, dass die CSU Einfluss genommen habe, um diesen Tabubruch zu Wahlkampfzwecken zu forcieren.

In das Bild fügt sich auch deren Kommunikation: Mit kalkulierten Rechtspopulismus und der Verbreitung von vorverurteilenden Meinungsäußerungen hat auch die CSU den Verdacht irreführend als Tatsache dargestellt.

Eskalation im Konflikt um den Klimaschutz

Ermittlungen gegen die Letzte Generation sind nicht neu. Seit mehreren Monaten führt die Staatsanwaltschaft Neuruppin in Brandenburg Untersuchungen gegen Klimaaktivist:innen wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung durch. Den Aktivist:innen wird unter anderem vorgeworfen, den Flughafen Berlin-Brandenburg besetzt zu haben. Im Dezember 2022 wurden bundesweit Durchsuchungen durchgeführt, was zu hunderten freiwilligen Selbstanzeigen von Unterstützer:innen der Gruppe führte.

Ein Aspekt, welcher in der Debatte bedacht werden sollte: Laut einer Statistik von t-online haben auch die Angriffe auf die Letzte Generation zugenommen. Im Jahr 2022 gab es insgesamt 18 Ermittlungen, während in den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 bereits 66 Verfahren durchgeführt wurden. Hinzu kommen viele weitere Fälle, die in der Statistik nicht aufgenommen werden.

Die Dunkelziffer sei so hoch, da die Mitglieder der Letzten Generation meist selber keine Fälle anzeigen. So ist die Polizei auf andere Quellen angewiesen, wie Videos in den sozialen Medien. Gestiegen ist vor allem die Anzahl der Körperverletzung: von acht im Jahr 2021 auf 17 zwischen dem 01. Januar und dem 19. Mai 2023. In diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Nötigungen vervierfacht.

Radikale Protestformen oder legitime Aktionsmittel? Die Grenzen des zivilen Ungehorsams

Andreas Voßkuhle, der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts, Jurist und Hochschullehrer, zieht Parallelen zwischen den Taten der Letzten Generation und historischen Vereinigungen, wie der Hausbesetzerszene. In diesem Vergleich kommt er zu dem Schluss, dass bei der Letzten Generation keine extremen Ansätze festzustellen sind. Laut Voßkuhle veranstalten die „Straßenkleber heute harmlose Sandkastenspiele“, wie er der „Rheinischen Post“ mitteilte. Also doch keine kriminelle Gruppierung? Zunächst einmal – Was ist eine kriminelle Vereinigung? Sehen wir uns dafür die Gesetzeslage an.

StGB § 129: Bildung krimineller Vereinigungen:

(I) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. (…)

(II) Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.

(III) Absatz 1 ist nicht anzuwenden,

  1. (…)
  2. wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist, oder
  3. (…)“

Eine Bestimmte Schwelle

Ursprünglich gegen sogenannte „Geheimgesellschaften“ angewendet, existiert der Tatbestand in der Bundesrepublik seit 1951. In den 70er Jahren wurden politische Vereinigungen inkludiert. Personen, die beschuldigt werden, Täter des § 129 StGB zu sein, können einfacher durch Eingriffs- und Ermittlungsbefugnisse belangt werden. Das bildet oft den Beginn weiterführender Ermittlungen. Insgesamt soll der Paragraph der öffentlichen Sicherheit dienen und kam in der Vergangenheit vorrangig im Kontext rechtsextremer Gruppierungen zur Anwendung.

Von einer kriminellen Vereinigung kann erst gesprochen werden, wenn die Straftaten eine bestimme Schwelle überschreiten. Der Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg, Milan Kuhli nimmt an, dass diese Schwelle bei der Letzten Generation noch nicht überschritten wurde, wie er dem ZDF mitteilte: „Ich sehe zurzeit noch keine erheblichen Delikte, die die Annahme einer kriminellen Vereinigung rechtfertigen.“ Allerdings könne diese Einschätzung auch anders ausfallen.

„abstraktes Gefährdungsdelikt“

Chan-jo Jun, Rechtsanwalt für IT-Recht, beurteilt den § 129 als ein abstraktes Gefährdungsdelikt mit einer Vorverlagerung der Strafbarkeit: „Wir warten also nicht ab, bis jemand sich an einer konkreten Tat beteiligt, sondern bloß das Unterstützen einer solchen kriminellen Vereinigung führt dazu, dass man sich strafbar macht.“ Würde die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung eingestuft werden, hätten viele Menschen mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen, insbesondere diejenigen, welche die Letzte Generation in irgendeiner Weise unterstützen, sei es als Spender:innen oder Anwält:innen der Mitglieder. Deshalb sei man in der Anwendung des § 129 vorsichtig.

Der renommierte Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Thomas Fischer betont die Unabhängigkeit der Mitgliederrollen- und struktur. Die über-personale Struktur der Mitglieder vereint die gemeinsame Regelbildung. Die Letzte Generation kann als „Zusammenschluss“ gesehen werden, bei dem eine Kerngruppe wichtige Entscheidungen trifft und viele Splittergruppen entstanden sind. Die Vereinsstruktur wird nicht durch den Wechsel der Mitglieder beeinträchtigt. Dies erfüllt die Anforderungen des § 129 Abs. 2.

Spannend wird es in Abschnitt 3, der Ausnahmevorschrift. Hier wird gefragt, ob die Begehung von Straftaten nur einen Zweck oder eine untergeordnete Tätigkeit darstellt. „In dieser Einschränkung findet man eine nach der Kommentarliteratur weit auszulegende Einschränkung, mit der man versucht, diesen sehr ausufernden Tatbestand mit den sehr schwerwiegenden Folgen ein wenig einzuhegen“, kommentiert Jun. Demnach müsse es sich um eine Vereinigung handeln, deren Zweck darauf ausgelegt ist, Straftaten zu begehen.

Die Streitfrage

Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Letzten Generation wirklich als Zweck der Gruppe eingeordnet werden müssen – können den Aktivist:innen beispielsweise gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304), Nötigung (§ 240 StGB) oder gefährliche Eingriffe in den Straßen- (§ 315b StGB) oder Luftverkehr (§ 315 StGB) als Zweck der Tätigkeit vorgeworfen werden? „Ist das militant, gewalttätig, kriminell sein ein nicht nur untergeordneter Zweck und geht dadurch eine öffentliche Gefahr, eine erhebliche Gefährdung für die öffentliche Sicherheit einher?“, fragt Jun und veranschaulicht die Problematik an dem Beispiel, dass ein Krankenwagen durch den Protest nicht zur Einsatzstelle gelangen kann.

Eigentlich geht es der Letzten Generation in ihren Aktionen doch darum, auf die Missstände beim Klimaschutz hinzuweisen. In der Vergangenheit wurden einige Aktionen der Letzten Generation als Nötigung bestraft, andere freigesprochen. Es kommt also auf den konkreten Einzelfall an.

Fazit: Vermutlich keine Kriminelle Vereinigung

Fischer gibt zu bedenken, dass die Gruppe zwar nicht mit dem Ziel gegründet wurde, Straftaten zu begehen. Der Vereinigungszweck der Letzten Generation kann aber als eine dieser Tätigkeiten verstanden werden. Diese Aktionen sind jedoch meist „strafbar“ im Sinne des geltenden Rechts, wie beispielsweise Sachbeschädigung. Dieses ist den Mitgliedern durchaus bewusst: Sie nehmen Bestrafungen aufgrund ihres Begehens von Straftaten durchaus in Kauf.

Fischer resümiert, dass die Letzte Generation die Voraussetzungen des § 129 StGB nicht erfüllt, wenn die Gruppierung als Gemeinschaft von Aktivist:innen verstanden wird. Wenn allerdings Teilvereinigungen nach dem Begehen von Straftaten innerhalb der Gruppierung definiert werden, entsprechen Entscheidungsfindung, Strukturen und organisatorische Unabhängigkeit der Teilnehmenden den Voraussetzungen des § 129 Abs. 2 StGB.

„Das ist keine strafbare, kriminelle Vereinigung, deswegen waren die Razzien in sieben Bundesländern unsinnig und rechtswidrig, denn nur einzelne Taten sind rechtswidrig.“, so Jun wiederum abschließend. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie sich die Gerichte in Bayern und deutschlandweit entscheiden. Das tun aber diese, und nicht das bayerische LKA oder die CSU.

Artikelbild: Sven Hoppe/dpa