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Bankrotterklärung der Polizei in Leipzig: Offener Brief an Innenminister Wöller

von | Nov 12, 2020 | Aktuelles, Kommentar

Sehr geehrter Herr Wöller,

Innenminister in Sachsen – das ist ein schwieriger, um nicht zu sagen harter Job. Sachsen, das war vor gar nicht so langer Zeit mal ein richtig tolles Projekt: Leipzig, eine der am schnellsten wachsenden Städte Deutschlands mit seiner progressiven Kreativszene und seiner historischen Bedeutung. Chemnitz und Zwickau, Hochburgen der Industrie und ebenfalls Teil der Metropolregion Mitteldeutschland. Und natürlich Dresden, die barocke Perle Sachsens im Elbtal, eine der schönsten Städte überhaupt (an der Stelle bin ich natürlich subjektiv).

Doch in den letzten Jahren hat sich einiges geändert. Wer nicht, so wie ich, aus Sachsen kommt, der verbindet mit Sachsen mittlerweile andere Schlagworte: Gewalt in Connewitz, Pegida, Gruppe Freital. 2018 ein vorläufiger Höhepunkt: In Chemnitz kommt es am Rande rechtsextremer Demonstrationen zu Hetzjagden auf Menschen mit Migrationshintergrund. Die Polizei war hilflos überfordert, die Gewaltbereitschaft und die pure Masse an Rechtsextremen war unterschätzt worden. Klar war: So etwas darf nie wieder passieren. Politischer Extremismus in Sachsen ist ein ernsthaftes Problem und so sollten wir ihn auch behandeln.

Damals waren Sie auch schon Innenminister, Herr Wöller

Die Kritik an Ihnen hielt sich in Grenzen, viel präsenter war die Diskussion um Hans-Georg Maaßen. Zu Recht, meiner Meinung nach. Sie bekommen Ihre Chance, alles besser zu machen. So muss es sein, jeder Mensch sollte eine zweite Chance haben, auch ein Innenminister. Diese Chance war nun am Wochenende gekommen.

Die „Querdenken“-Bewegung hatte in Leipzig zur Demonstration aufgerufen. Dieser Aufruf war von gewaltbereiten rechten Gruppen geteilt und unterstützt worden. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen: Das könnte heiß werden.

Die Demonstration war eigentlich auf einen Platz außerhalb der Stadt verlegt worden, doch das OVG Bautzen erlaubte die Nutzung der Innenstadt kurzfristig doch. Das ist eine Entwicklung, die außerhalb Ihrer Macht liegt und für die Sie nicht verantwortlich gemacht werden können.

Dennoch war zu jeder Zeit absehbar, dass diese Demonstration die Polizei vor eine Zerreißprobe stellen würde. Die Demonstration konnte nur unter Auflagen überhaupt stattfinden. Dass diese Auflagen (u.a. das konsequente Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes) nicht eingehalten werden, war allen klar. Bei vorherigen „Querdenken“-Demos hatten die Veranstalter bewiesen, dass sie nicht in der Lage (oder willens) waren, die Regeln durchzusetzen.

Eine gewalttätige und rechtsextreme Demo in Leipzig

Das Vorgehen in so einem Fall ist klar: Die Polizei muss bei massiven Verstößen gegen die Auflagen die Demonstrierenden nachdrücklich an ihre Pflichten erinnern. Und bei anhaltender Ignoranz die Demonstration auflösen. Die Demonstration auflösen besteht dabei natürlich aus zwei Ebenen: Einmal die Verkündung der Auflösung der Demonstration und dann auch die Durchsetzung der Auflösung, wenn von den Demonstrierenden der Auflösung nicht umgehend Folge geleistet wird.

In Leipzig lief das nur auf einer Ebene gut: Nachdem die Demonstrierenden sich, wenig überraschend, nicht davon überzeugen ließen, die Auflagen zu beachten, wurde die Demo für beendet erklärt. Das war am Nachmittag, gegen 15:30. Umgehend formierte sich eine illegale, unangemeldete Spontandemonstration. In dieser Demonstration kam es dann zunehmend zu Gewalt gegen die Polizei, gegen Demonstrierende der Gegendemos, gegen Presse-Teams. Szenen wie in der Anomie.

Wir waren auch live vor Ort und haben das Chaos und die Gewalt beobachtet:

Leipzig: Die Polizei kapitulierte vor gewalttätigen Querdenkern – Was soll das? (Demobericht)

Gegen 19 Uhr twitterte der Journalist Paul Gäbler „Wir ziehen uns jetzt zurück, das ganze wird uns zu heiß. Stimmung sehr aggressiv, Polizei hat kapituliert.“ Ein Tweet, stellvertretend für den Eindruck, den alle Beobachter der Szene hatten.

Die Polizei hat einfach aufgegeben und gewalttätigen Verfassungsfeinden die Stadt überlassen

Die Polizei hatte aufgegeben und illegal Demonstrierende übernahmen für einige Stunden die Gewalt über die Stadt. Wie aggressiv es wirklich zuging, ist schwer einzuschätzen, da sich Presse-Teams immer mehr zurückziehen mussten. Auf die schützende Hand des Staates konnten sie nicht vertrauen. Doch es gibt genug Bilder und Videoaufnahmen, die eine Einschätzung ermöglichen:

Angriffe auf Presse & Polizei in Leipzig: So rechtsextrem war Querdenken (AfD, NPD, Nazi-Hooligans uvm)

Auf einer Gegendemonstration waren zwischenzeitlich Wasserwerfer und Räumpanzer zum Einsatz gekommen. Ich möchte nicht die Gewaltbereitschaft von Teilen des linksextremen Spektrums in Leipzig unter den Tisch kehren, aber mich würde doch interessieren, warum dieses technische Material nicht an der deutlich größeren Baustelle, der illegalen Spontandemonstration zehntausender, teils gewaltbereiter Neonazis in der Leipziger Innenstadt genutzt wurde?

Sie, Herr Wöller, sind der oberste Verantwortliche der Ereignisse des Tages

Auch wenn Sie (richtigerweise) die Entscheidung des OVG Bautzen kritisieren, ist es doch Aufgabe Ihres Ressorts, die innere Sicherheit in Sachsen zu gewährleisten. Das Scheitern der Polizei ist, so ehrlich müssen wir sein, auch Ihr Scheitern. Doch ich hatte noch die Hoffnung, dass Sie in der für Sonntagnachmittag anberaumten Pressekonferenz die richtigen Worte finden würden, dass sie Fehler einräumen, Kritik zulassen und endlich die zweite Chance der zweiten Chance nutzen. Ich wurde schwer enttäuscht.

https://twitter.com/DanielLaufer/status/1325491307083681792

Ein Video des ARD-Politikmagazins Monitor fasst die Absurdität, um nicht zu sagen Realitätsverweigerung, zusammen: Sie sprechen von einem „überwiegend friedlichen Verlauf“ während man Szenen sieht, die an Straßenschlachten erinnern. Sie erklären, gewalttätige Auseinandersetzungen seien „verhindert“ worden. Auch dagegen gibt es klare Videobeweise. Sie sprechen sich gegen eine „gewaltvolle Auflösung einer friedlichen Versammlung“ aus – zu einem Zeitpunkt, als längst klar war, dass dies keine friedliche Versammlung mehr war. Sie suggerieren, dass es hier um Senioren oder Kinder gehe – dabei wirkte die Masse der gewaltbereiten, illegal Demonstrierenden nicht so, als würde sie sich mit erhobenem Zeigefinger in die Schranken weisen lassen.

Herr Wöller, gestehen Sie Ihre gravierenden Fehler ein!

Den Abschluss des Videos bildet ihr Bekenntnis zum Schutz der Meinungsfreiheit, unterlegt mit Videos von Menschen, die den Hitlergruß und ähnliche Symbolik zeigen. Ist das die Meinungsfreiheit, die Sie als Innenminister schützen wollen?

Herr Wöller, die Polizei hat an diesem Tag schlicht und ergreifend ihre Aufgabe zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Prinzipien nicht erfüllt. Zum (mindestens!) zweiten Mal in Ihrer Amtszeit als Innenminister hat die Polizei vor rechtsextremer Gewalt kapituliert. Sie versuchen, die Schuld bei anderen zu verorten und Kritik lächerlich zu machen. Für mich als Mensch, der in Sachsen sicher leben möchte, ist das eine Bankrotterklärung.

Ich habe ja schon das Thema „zweite Chance“ angesprochen. Sie hatten eine zweite Chance um zu zeigen, dass Sie aus Chemnitz gelernt haben. Sie haben nicht aus Chemnitz gelernt. Die Polizei ist wieder an ähnlichen Problemen gescheitert, Presse und Zivilgesellschaft konnten nicht vor einem Mob aus Extremisten und Randalierern geschützt werden. Die Verantwortung dafür trägt der Innenminister des Landes Sachsen. Das, Herr Wöller, sind Sie.

Ich bitte Sie also: Räumen Sie die wiederholt begangenen Fehler endlich ein! Ziehen Sie die Konsequenzen aus den Ereignissen. Sorgen Sie dafür, dass wir Sachsen uns sicher fühlen können in unserem schönen Bundesland. Denn wer das nicht gewährleisten kann, der ist fehl am Posten des Innenministers.

Mit freundlichen Grüßen

Frederik Mallon

Artikelbild: Screenshot twitter.com


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