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Das unbemerkte Querdenken-Netzwerk um und in WELT

von | Jul 13, 2022 | Aktuelles

Die WELT als Sprungbrett für Querdenker und ihre Narrative

Gastartikel von Gunnar Hamann

Die WELT steht schon lange in der Kritik, regelmäßig Desinformation über die Corona-Pandemie und Impfungen zu verbreiten. Dabei werden teilweise wohl gezielt Narrative der „Querdenker“ übernommen und bespielt, was zu viel Applaus aus der extremistischen Ecke führt. Doch das ist nicht nur ein Zeichen von zunehmender Wissenschaftsfeindlichkeit des Axel-Springer-Mediums. Denn nicht nur finden sich vermehrt Querdenken-Narrative in ihren Artikeln, inzwischen schreiben Querdenker und Personen aus dieser Szene dort selbst Beiträge. Eine Mitgründerin einer Gruppierung, die Querdenken-Demos veranstaltet oder auch ein Autor verschwörungsideologischer Desinformationsblogs dürfen bei WELT inzwischen einfach direkt veröffentlichen. Das bisher kaum beachtete Netzwerk der „Querdenker“ bei WELT.

Überblick über die Verbindungen einzelner WELT-Journalist:innen in das Umfeld von zu Querdenken offenen Initiativen. Darstellung mit Gephi von Gunnar Hamann, Ostprog.de.

Die Spitze des Eisbergs?

Es gebe eine „gruselige Faszination“ bei der WELT für das Spektrum von Querdenken. Das sei kein Geheimnis, schrieb mir ein erfahrener investigativer Journalist vor nicht allzu langer Zeit. Ein prominentes Beispiel dafür dürfte derzeit der WELT-Journalist Tim Röhn sein. Bereits im April 2021 berichtete der Volksverpetzer über einen WELT-Artikel von Röhn, der darin Falschdarstellungen zur Wirksamkeit von PCR-Tests verbreitet. Die Vergangenheitsform wäre in diesem Fall leider irreführend, denn im fraglichen Beitrag gibt es bis heute keine Richtigstellung zu den irreführenden Aussagen, wofür WELT von „Querdenken“(-nahen) Seiten massiv Reichweite erntete.

Aktuelles Beispiel ist aber auch die Unterlassungserklärung eines Justiziars der WELT aufgrund eines Tweets des Journalisten Matthias Meisner. Über den Fall berichtete auch der Volksverpetzer. Vorgeworfen wurde ihm, die „journalistische Glaubwürdigkeit [Röhns] ohne jeden tatsächlichen Anlass in Zweifel [zu] ziehen“. Anwalt Jun hat diese Angelegenheit bereits juristisch eingeordnet. Die Erfolgsaussichten wären wohl eher gering gewesen. Mehr noch: Womöglich, so der Anwalt, könnte der Justiziar der WELT selbst einen Strafbestand erfüllen. Meisner hatte übrigens Volksverpetzer zitiert:

„Auch andere Medien zitierten die Quatsch-»Studie« über Impfnebenwirkungen ungehemmt und paarten sie oft mit Querdenker-Mythen. Darunter explizit WELT Autor Tim Röhn, der mit seinen Narrativen und Inhalten eigentlich kaum von denen der Querdenker zu unterscheiden ist.“

Volksverpetzer wurde interessanterweise dafür nie abgemahnt.

Medien & RKI fallen auf Quatsch-“Studie“ über Impfnebenwirkungen herein

Keine Einzelfälle

Auch ich habe bereits mit Tim Röhn zu tun gehabt. Einerseits habe ich selbst medienethisch einen schweren Fehler begangen, als ich für eine investigative Recherche Bild und Namen von Röhn verwendet habe. Ein Fehler für den ich in aller Deutlichkeit um Entschuldigung gebeten habe und die Tim Röhn – das ist nicht selbstverständlich – annahm.

Dieses Verhalten wird bei der WELT anscheinend goutiert. Der Journalist Röhn wurde in der Zwischenzeit zum Leiter des Ressorts „Schwerpunktrecherche bei der WELT befördert. Doch die Auseinandersetzungen um Röhn verschleiern zugleich, dass sich bei der WELT – bisher weitgehend von der öffentlichen Debatte verborgen – bereits seit längerem ein interessantes Netzwerk von Journalist:innen etabliert hat. Ein Netzwerk mit ziemlich zweifelhaften Kontakten zu Initiativen, die ebenfalls offen mit dem Spektrum von Querdenken interagieren.

Auf dem Pfad der Elterninitiativen

Am vergangenen Sonntag erschien in der WELT ein Meinungsbeitrag unter dem Titel: „Entlasst die Kinder endlich aus der Maßnahmen-Politik!“ Als Autorinnen treten dabei Frauke Rostalski – Mitglied des Deutschen Ethikrats – sowie eine gewisse Nicole Reese auf. Nicole Reese ist laut eigener Angabe „Juristin, Mutter (…) und engagierte Demokratin“. Sie ist Mitbegründerin der Partei „Lobbyisten für Kinder in NRW“ sowie Mitinitiatorin der Elterninitiative „Laut für Familien“ sowie von #FriedlichZusammen, die Querdenken-Demonstrationen veranstalten.

In einer aktuellen Analyse der vergangenen Demonstration von #FriedlichZusammen durch das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. heißt es: „Die Kundgebung am 02.07. verdeutlichte, dass von den Scheinvorhaben nur wenig geblieben ist. Ob ‚Freie Linke‘, ‚Freedom Parade‘ oder ‚Studenten stehen auf‘: Die Beteiligten sind deckungsgleich zu anderweitigen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen.

Von der Querdenken-Demo in die WELT

An der Demonstration, so der Verein weiter, haben auch organisierte Neonazis teilgenommen und „antisemitische Ideologien haben sich gefestigt.“ Kurz: Die Demonstrationen, an denen Nicole Reese als Organisatorin und Teilnehmerin beteiligt ist, seien in ihrer personellen wie inhaltlichen Ausrichtung mittlerweile der Bewegung „Querdenken“ zuzuordnen.

„Laut für Familien“ ist wiederum ein Initiative, die aus dem zu Querdenken-offenen Verein „Initiative Familien“ hervorgegangen ist. Auf Nachfrage zu diesen Verstrickungen von Nicole Reese hat Frauke Rostalski bisher noch nicht reagiert. Welche Rolle kommt dabei aber der WELT zu?

Kristina Schröder und Caroline Turzer

Kristina Schröder arbeitet seit mehreren Jahren für die WELT als Kolumnistin. Sie unterstützt seit längerem die Anliegen der „Initiative Familien“ (Quelle). Ein seit Juni dieses Jahres eingetragener Verein, der sich – wenn man sich die Chronologie der Forderungen seit Gründung anschaut – nur ein Ziel zu haben scheint: Fast jedwede Maßnahme zum Infektionsschutz an Schulen zu beenden. Eine Ausnahme bildet dabei der anfängliche Einsatz der Initiative für die Einführung von Schnelltests. Dieser war jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits im August 2021 forderte man in einem offenen Brief die Abschaffung „belastender Testungen bei asymptomatischen Kindern ohne einen konkreten Anlass“.

Anfang Dezember 2021 ließ mir ein ehemaliges Mitglied der Initiative interne Dokumente zukommen, mit der persönlichen Anmerkung: „Zu Anfang hat man sich noch für echten Kinderschutz eingesetzt und auch langsame Lockerungen gefordert (…), aber dann hat man sich in Richtung Querdenker entwickelt bzw. Positionen kopiert.“ Aus den Dokumenten geht hervor: Kristina Schröder habe sich im Jahr 2020 regelmäßig im informellen Austausch mit der Vorgängerinitiative („Familien in der Krise“) befunden. Ob es in der vergangenen Zeit weitere Treffen gab, dazu wollte sich Schröder trotz mehrfacher Anfragen nicht äußern.

Distanzierung von Querdenken?

Dabei kam es im Verlauf der Pandemie schon mehrfach zu Distanzierungen des seit Juni eingetragenen Vereins von Querdenken. Etwa im November, nach dem Nachweis, dass mit einer einschlägig bekannten Querdenkerin eine Demonstration organisiert wurde. Daraufhin kam es dann zu Beginn des Jahres zu einem Webinar der Initiative beim Goldenen Aluhut.

In einem Interview mit der Stimme im Januar entschuldigte man sich und grenzte sich bereits im Vorfeld des eigentlichen Webinars von Querdenken ab. Das Interview wurde geführt mit Zarah Abendschön-Sawall (Bundesvorstand der Initiative Familien). Ob die Distanzierung aufrichtig war, könnte man anzweifeln, wenn man sieht, welche Beiträge von ihnen danach noch weiter auf Twitter geliked wurden

Zusammenarbeit trotz Querdenken-Nähe

Schröder unterstützt die Initiative sowie dieser nahestehenden Elterninitiativen mindestens weiterhin im digitalen Raum. So retweetete sie zuletzt Ende April einen Tweet der Querdenkerin Nele Flüchter, die auf Twitter unter Pseudonym aktiv ist. Flüchter ist unter anderem Mitbegründerin des Vorläufers der „Initiative Familien“, der Initiative Laut für Familien“ sowie #FriedlichZusammen. Flüchter ist ebenfalls Mitbegründerin der Partei von Nicole Reese. Beide sind in ihrem öffentlichen Wirken also eng miteinander verbunden.

Auf einer Demonstration sagte Flüchter: „Das Leben der Kinder und auch unseres gleicht schon seit langem einer tragischen Komödie, bei der Regierung und Medien die Regie führen.“ Eine Formulierung, die Anklänge an gängige Verschwörungsmythen hat.

Wenige Tage vor dem Retweet von Flüchter gab Schröder auf Twitter René Becke eine Plattform. Becke ist laut seinem Facebookprofil weiterhin für die Kommunikation bei der „Initiative Familien“ tätig. Er gründete daneben die Initiative „MV für Kinder“. Eine Initiative, die bis heute nicht glaubwürdig erklären kann, weshalb sie regelmäßig mit eindeutig erkennbaren Personen aus dem Spektrum von Querdenken auf Twitter interagiert.

Einer der von der Initiative favorisierten Tweets verwendet den in Kreisen von Querdenken beliebten Kampf-Begriff „Impfpropaganda“. Becke ist seit einigen Monaten auch Vorstandsmitglied der Partei „Lobbyisten für Kinder“. An dieser Stelle geht es zurück zu Nicole Reese. Diese eröffnete zum genannten Datum einen Account auf Twitter. Innerhalb kurzer Zeit und ohne vorherige Nennung hatte sie bereits zwei prominente Personen, die ihr folgten. Kristina Schröder und WELT-Journalistin Caroline Turzer. Weder Schröder noch Turzer wollten oder konnten auf Nachfrage bislang erklären, wie man so schnell auf den Account aufmerksam wurde.

Marit Schnackenberg und Jörg Phil Friedrich

Schnackenberg war bis Mitte Februar zeitweise für die WELT tätig. In dieser Zeit machte sie der demokratisch legitimierten Landeselternkonferenz NRW (LEK NRW) und deren Vorsitzenden unter Nennung derer Namen auf Facebook schwere Vorwürfe. Mit ihrer Unterschrift bei der Aktion WirWerdenLaut, hätte die Landeselternkonferenz ihre Neutralität verletzt, so urteilte Schnackenberg. Sie teilte dabei auch einen Beitrag ihres WELT-Kollegen Jörg Phil Friedrich, in dem dieser Stimmung gegen die Schüler:innen machte.

Interessant an Schnackenberg ist ihr Background. Sie ist Mitinitiatorin von Kinder brauchen Schule. Die Initiative ist laut eigener Darstellung vernetzt mit „Laut für Familien“ sowie der „Initiative Familien“ und in NRW angesiedelt. Für die WELT verfasste Schnackenberg unter anderem Beiträge, die sich mit Kindern und Jugendlichen während der Pandemie beschäftigen. Darunter auch ein gemeinsamer Artikel mit Jörg Phil Friedrich.

Friedrich ist Autor bei den Nachdenkseiten (sein letzter Beitrag dort im Februar 2022), publiziert nunmehr aber seit Ende des vergangenen Jahres Beiträge für die WELT. Marius Hellwig von der Amadeu Antonio Stiftung sagte im Interview mit Matthias Schwarzer vom Redaktionsnetzwerk Deutschland bereits im August 2020 folgendes zu den Nachdenkseiten: „Viele Anhänger*innen der Esoterikszene haben sich von den ‚klassischen‘ Medien abgewendet und konsumieren stattdessen verschwörungsideologische und/oder rechts-offene Medien wie die Nachdenkseiten, das Compact-Magazin, RT Deutsch, KenFM, die Epoch Times und PI News.“ Ähnlich befindet das auch das medienkritische Projekt Gegenmedien.

Von verschwörungsideologischen und rechtsoffenen Medien zu WELT

Friedrich war es, der eine Protagonistin der Initiative Familien zu einem Interview einlud, in der diese von „Hass und Hetze“ sprach. In einem Absatz des Beitrags bezieht man sich dabei auch wohl indirekt – ohne namentliche Nennung – auf die Journalistin Annette Bulut und mich. Annette Bulut recherchiert bereits über einen langen Zeitraum zu dieser und ähnlichen Initiativen. Auch sie beschäftigt sich mit der Rolle von Nicole Reese und #FriedlichZusammen.

Es ist auffällig, dass viele der hier genannten Beteiligten sich offen gegen die Bewegung von #WirWerdenLaut positioniert haben. Insbesondere Jörg Phil Friedrich. Dieser veröffentlichte einen Beitrag in der WELT, in dem er von einer „Panik-Kampagne“ sprach. Ein Vorgehen, das an die Methode des Gaslighting erinnert, denn damit werden die berechtigten Sorgen der Schüler:innen psychopathologisierend umgedeutet. Er spricht im Beitrag sogar von einer „Propaganda der Angst“.

Im März folgte schließlich ein weiterer Beitrag zu #WirWerdenLaut von Friedrich, gemeinsam mit Benjamin Stibi, der ebenfalls regelmäßig Kommentare für die WELT verfasst. In dem Beitrag wird impliziert, dass die Aktion von #NoCovid gesteuert sei. Belege dafür werden nicht geliefert, abgesehen von der Tatsache, dass einige der Unterzeichner:innen sich im vergangenen Jahr für das Konzept von NoCovid eingesetzt haben.

Jörg Phil Friedrich ist auf Facebook gegenseitig mit Nicole Reese vernetzt. Gleiches trifft auch auf Marit Schnackenberg zu.

Am Rande: Dass Röhn in dieses journalistische Netzwerk mit direkten Verbindungen zu den fraglichen Akteur:innen in irgendeiner Form involviert sein muss, darauf deutet ein Tweet vom 29. Mai hin. Die SPD Emmendingen hatte zuvor die Verleihung des SPD-Frauen-Preises abgesagt, der eigentlich an eine Vertreterin der Initiative Familien verliehen werden sollte. Tim Röhn – journalistisch zu diesem Zeitpunkt in völlig anderen Gefilden unterwegs – schrieb auf Twitter einen kryptischen Hinweis an Jörg Phil Friedrich.

Fazit: WELT wird immer mehr zum Sprungbrett für „Querdenker“ und ihren Narrativen

Tim Röhn ist eigentlich nur Galionsfigur für einen Prozess bei der WELT geworden, der schon viel früher begonnen hat und dessen konkrete Bedeutung die Mehrheit der deutschen Medienkritik aus meiner Sicht bis heute verdrängt. Scheut man den Konflikt und falls ja, auf wessen Kosten?

Der einzige Journalist, der dieses seltsame Tabu in der Öffentlichkeit so klar angesprochen hat, ist – neben Matthias Meisner – wahrscheinlich Markus Beckedahl. Er sprach von „einer großen Gefahr“, dass sich die WELT zunehmend verschwörungsideologischen Portalen zuwenden könnte. Ich würde sogar weiter gehen. Die WELT hat sich diesen bereits in Teilen geöffnet. Sie teilt sich buchstäblich Autoren mit verschwörungsideologischen, pro-russischen Desinformationsseiten, für die inzwischen auch Kreml-Propagandisten arbeiten.

Kristina Schröder hat das Tor zur WELT für die genannten – zu Querdenken offenen – Elterninitiativen aufgestoßen. Die Beförderung von Tim Röhn zeigt noch einmal deutlich, wohin die Reise derzeit wohl gehen soll. Diese Entwicklung hält man sicher nicht mit Beschönigungen oder dem Verdrängen des Problems auf. Es ist zu offensichtlich für alle.

Das macht mein zu Beginn erwähntes Gespräch mit dem Investigativjournalisten deutlich. Uns – und dabei rede ich explizit von uns medienkritischen Journalist:innen – mag die „gruselige Faszination“ der WELT für Querdenken bekannt sein. Unser Publikum sollte es auch erfahren.

Zum Thema:

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Dieser Artikel ist ein Gastartikel von Gunnar Hamann. Der freie Autor recherchiert seit Herbst 2021 zu Vernetzungen von Elterninitiativen im Spektrum von Querdenken. Mehr von ihm findet ihr auf seinem Blog ostprog.de oder auf Twitter. Volksverpetzer teilt nicht alle Aussagen, die der Autor außerhalb des Artikels getätigt hat und möchte sich auch von einigen Aussagen distanzieren, wie der Bezeichnung von Dr. Hendrick Streeck als „Massenmörder“, eine Aussage, die Hamann wieder gelöscht hatArtikelbild: shutterstock.com / Screenshots

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