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Stuttgart: „Nie dagewesene Gewalt“?! Polizei, Politik & Presse im Rausch der Übertreibung

von | Jun 24, 2020 | Aktuelles, Schwer verpetzt

Wenn Volksverpetzer Übertreibungen der Polizei aufdeckt…

Das Wichtigste vorweg, weil die Kommentarspalten sicherlich bereits jetzt explodieren: Wir beim Volksverpetzer verurteilen Gewalt, selbstverständlich auch gegen Polizeibeamt*innen, die täglich für unsere Sicherheit sorgen. Jede*r Verletzte ist eine*r zu viel. Ich persönlich halte die deutsche Polizei für eine wichtige Institution. Ich habe ein paar Freunde bei der Polizei, die ich auch sehr schätze. Und ich wünsche niemandem etwas Schlechtes. Auch verurteile ich selbstverständlich die Randalen in Stuttgart, das mutmaßlich versuchte Tötungsdelikt gegen den Studenten und natürlich alle Sachbeschädigungen, Plünderungen und Verletzungen. Wer denn nicht?

Ich empfinde es aber als extrem problematisch, wenn ich von einem wütenden Mob gezwungen werden soll, deswegen das faktisch belegbare Racial Profiling in der Polizei zu leugnen (mehr dazu), entgegen der eigenen BKA-Zahlen zu behaupten, Gewaltkriminalität gegen die Polizei hätte zugenommen (mehr dazu) oder dass die Vorfälle in Stuttgart eine Form der „nie da gewesenen Gewalt“ gewesen seien, wie es der Stuttgarter Polizeipräsident sagte und wie es vielfach zitiert wird (Quelle).

Die Polizei ist hier nicht neutral

Die Polizei ist NICHT neutral, wenn es um Auseinandersetzungen mit der Polizei geht. Das sage nicht ich, das sagt der Deutsche Journalistenverband: „Bei Auseinandersetzungen ist die Polizei Partei und nicht unparteiischer Beobachter“. Wenn ich Polizeimeldungen kritisch hinterfrage und sie nicht einfach nur abtippe, bin ich kein Autor eines „linksextremen Blogs“, der „Gewalt verharmlosen“ will, sondern verwende journalistische Standards, die die deutsche Presse anscheinend kollektiv über Bord wirft.

Wir haben gestern diese Fakten getwittert. Und besonders an Punkt zwei gab es große Proteste. Weil die Schlagzeilen der Presse vor wenigen Wochen noch genau gegenteilig lauteten. Weil „Stuttgart“ für viele Bilder erzeugt hat, die mit dieser Tatsache scheinbar nicht vereinbar sind. Nicht nur für Nazis. Sondern für ganz normale, anständige Bürger*innen. Und ich verstehe, dass das erstmal komisch wirkt.

Wer ist hier „neutral“?

Dass Stuttgart nicht „die Antifa“ war oder böse Ausländer, wie Rechtsextreme (und einige aus der CSU oder den Polizeigewerkschaften) jetzt plärren, darüber müssen wir nicht extra diskutieren. Das habe ich hier schon zusammengefasst.

Stuttgart: Wie Rechte gezielt mit Überreaktionen Nazi-Terror verharmlosen

Reden wir mal nicht über die rassistischen Versuche, diese Übergriffe aus der Partyszene (Polizei-Begriff, nicht meiner!) zu etwas politischem zu machen, was es nicht ist (Was auch die Polizei sagt, Quelle). Das ist eine andere Debatte. Nein, lassen wir mal die Rassisten bei Seite. Denn ein anderes Narrativ, das von der Polizei gestreut und völlig unkritisch von Politik und Presse verbreitet wird, ist eigentlich weitaus problematischer. Eben weil es so universal anerkannt ist, dass es wie Blasphemie wirkt, wenn wir als Anti-Fake-News-Blog das Gegenteil behaupten.

Und ich meine klar, wenn so ein Blog sämtlicher Presse und der Polizei widerspricht, wäre ich auch zuerst skeptisch. Aber genau wie wir im Mai massivst unter Shitstorms standen, weil wir NICHT „regierungskritisch“ gewesen sein wollten und „auf Regierungslinie“ bei den Corona-Maßnahmen, so werden wir jetzt nicht vor einem Narrativ kapitulieren, das sich nun mal faktisch widerlegen lässt. Es mag unglaublich klingen in dieser Zeit und wir haben sicher auch so unsere Vorurteile, aber wir folgen wirklich den Fakten, egal, wo sie uns hinführen. Egal, ob uns das bei einem Thema „links“ macht oder bei einem anderen „nicht regierungskritisch“ oder was auch immer.

Gewalt gegen Polizei?

Dass die Gewaltkriminalität gegen Polizeibeamt*innen im vergangenen Jahr um 31,2% gesunken ist, mag bei solchen Schlagzeilen eine absurde Behauptung sein:

Ich weiß, wie das klingt. Aber um diese Schlagzeilen zu erzeugen hat das BKA einfach eine ganz eigene Definition von „Gewalt“ verwendet, die ironischerweise Straftaten wie Mord und Totschlag NICHT beinhaltet. Ja, wirklich. Wenn man einfach nur die BKA-eigenen Definitionen von „Gewaltkriminalität“ heraussucht und mit den BKA-eigenen Zahlen von Straftaten gegen die Polizei vergleicht, kommt da ein Rückgang von 32,1% heraus. Wenn man alle Straftaten einrechnet, die das BKA nur bei der Polizei als „Gewalt“ definiert, nicht aber bei „normalen Bürger*innen“ (wie das explizit Nicht-Gewaltdelikt „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ §113 StGB), gab es lediglich einen Anstieg von 1,3%.

Und nicht von 8,2%, wie die Polizei und Herr Seehofer uns erzählen. Ganz ausführlich, mit allen Fakten und Belegen hat das der Kollege Tobias Wilke hier aufgedeckt:

Presse fällt auf Manipulation herein: Gewaltkriminalität gegen Polizeibeamte um 31,2 % gesunken!

Wenn man der Polizei grobe Falschdarstellung und der Presse unkritisches Weiterverbreiten davon vorwirft, braucht man gute Fakten und Belege. Aber die sind da. Wer den Artikel da nicht lesen will, dem kann ich auch nicht helfen. Aber wenn wir die eigenen BKA-Zahlen und die eigenen BKA-Definitionen verwenden, dann kann ich beim besten Willen keinen Anti-Polizei-Bias bei uns erkennen. Und vermisse eine journalistische Distanz bei einem Großteil der Presse, die die Polizeimeldungen einfach ohne Faktencheck weiterverbreitet. Der Artikel erschien vor drei Wochen – und wurde bis heute fast gänzlich ignoriert.

Fakten zu Stuttgart

Keine Frage, die Vorfälle und die Gewalt in Stuttgart waren nicht harmlos. Die Angreifer*innen stammen aus der sogenannten Party- und Eventszene mit mehreren Hundert jungen Menschen, sagt der Stuttgarter Polizeipräsident Frank Lutz. Die überwiegend jungen, männlichen und alkoholisierten Partygänger*innen betrinken sich seit Wochen öffentlich, inszenieren sich für Social Media und beleidigen auch aggressiv Beamt*innen. Das ist ein Problem, keine Frage.

Eine Drogenkontrolle bei einem 17-jährigen Deutschen war der Auslöser für die jetzige Eskalation. Dass wegen Corona viele Etablissements geschlossen sind und die Feierenden angespannt, sei mit ein Grund. Ein anderer sei toxische Männlichkeit, Geltungsbewusstsein vor der Gruppe und in Social Media – und natürlich Alkohol. Unter den 24 Personen, die verhaftet wurden, waren genau 12 Deutsche. Ein Sozialpsychologe sieht in der Drogenkontrolle einen Auslöser für den psychologischen Mechanismus, die die Polizei in jener Nacht als Feind ausmachte (mehr dazu).

Wem das bereits „Verharmlosung“ war, den muss ich enttäuschen, denn das ist auch die offizielle Darstellung der Polizei. Der ich in diesem Artikel gerade vorwerfe, die Vorfälle bewusst zu skandalisieren, im Tandem mit Politik und Presse. Es gibt aber die eindeutige Tendenz, nicht nur in der rechtsextremen Szene, die Vorfälle zu einem „Bürgerkrieg“ aufzubauschen, auch von der Polizei selbst. „Solche Szenen hat es in Stuttgart noch nie gegeben“, sagte der Polizeipräsident. Und das Zitat: Eine „nie dagewesenen Dimension der Gewalt“.

Wirklich?

Stuttgart, der 30. September 2010. Mindestens 164 Verletzte, andere sprechen von mindestens 400. Blutende Augen, Pfefferspray im Gesicht. Der „schwarze Donnerstag“ war eine Straßenschlacht, bei welcher die Polizei brutal die Stuttgart-21-Proteste niederschlug (Quelle). Oder einfach mal „Stuttgart Hooligans“ googlen. Wasserwerfer in Stuttgart im Jahr 2017. Es gab Verletzte, zehn Festnahmen. Gegen Fußball-Hooligans (Quelle). Ein Aufeinandertreffen von 170 Fußball-Hooligans erst Anfang März (Quelle). Aber gehen wir mal aus Baden-Württemberg weg. Köln 2014:

https://twitter.com/d_pesch/status/1275111515100794888

5000 rechtsradikale Hooligans liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Hunderte gewaltbereite Nazis, die von der Polizei beobachtet werden (Quelle). Es wurden 44 Polizisten verletzt (Quelle). In Stuttgart am Wochenende waren es 19, nur einer davon dienstunfähig (Quelle). Oder erst vergangenen Monat in Sachsen: Mehrere Großeinsätze – man verhaftete u.a. 25 Neonazis, die die Polizei mit Stangen & Rohren angriffen & Glasflaschen warfen. Sie beschädigten ein Polizeiauto, man fand Granaten & Messer (Quelle).

2016 überfielen 200 bewaffnete Neonazis einen ganzen Stadtteil in Leipzig, plünderten und zerstören (Quelle). „Offener Straßenterror“ 2015 in Leipzig: Straßenschlacht von der Polizei mit Autonomen, die einen Nazi-Aufmarsch verhindern wollten (Quelle). Oder die „Chaostage von Hannover“ 1995: 240 verletzte Beamt*innen und verletzte 200 „Punks“, Pflastersteine, brennende Barrikaden (Quelle). Und vieles, vieles mehr. Ich hab nur ein paar Minuten gegooglet. Die Öffentlichkeit hat das anscheinend alles kollektiv vergessen. Und sprechen wir mal nicht davon, dass erst im Februar ein rechtsextremer Terrorist bei einem Anschlag neun Menschen ermordete. Vor einem Jahr war Halle und der Mord an Walter Lübcke. Was ist damit?

Warum diese sprachliche Eskalation?

Das soll Stuttgart nicht verharmlosen (wie uns sicher dutzendfach in den Kommentarspalten bereits vorgeworfen wird). Das waren nur Vergleiche, um „nie dagewesen“ zu widerlegen. Ich verstehe, wie das funktioniert: Stuttgart war schlimm. Stuttgart ist zu verurteilen, jeder Verletzte ist einer zu viel. Klar. Und man will nach außen betonen, dass man das auch ganz doll verurteilt. Die Polizei will ihr Entsetzen durch diese Übertreibungen angemessen zum Ausdruck bringen. Die Handy-Videos und die krassen Schlagzeilen sind gute Presse, bringen Reichweite und Klicks. Und die rechtsextreme Bubble jubelt natürlich, weil durch so eine Sprache Nazi-Terror relativiert wird. Denn:

Wenn man „nie dagewesene Gewalt“ auspackt, wenn man extra sprachlich übertreibt, um zu signalisieren, wie schlimm man das findet, wenn Politiker*innen Worthülsen verbreiten, sie seien „mit Gedanken bei den verletzten Polizisten“ (Quelle), was man genau so bei einem Terroranschlag zu den Angehörigen der Toten sagt, dann ist das ja vielleicht schön für einen selbst, aber man nimmt sich selbst die Möglichkeit, Morde und Terror noch angemessen zu beschreiben. Was soll danach noch verbal kommen? Wie steigert man das, wenn es wirklich nötig ist? War Hanau „noch ganz viel doll mehr nie dagewesene Gewalt“? Erst Recht, wenn diese Floskel ständig verwendet wird.

Reality Check für Deutschland

In den Kommentarspalten sind sich Leute jetzt sicher, dass die „Gewalt gegen Polizei“ wohl ganz massiv zugenommen haben muss, weil Stuttgart. Und genau ist das Problem. Solche teilweise überzogenen Reaktionen und eine überzogene Berichterstattung ersetzt jeden sachlichen, neutralen Blick. Und es ist so weit verbreitet, wir müssen uns beschimpfen lassen, weil die Realität so viel anders aussieht, als das, was in der Zeitung steht. Ironischerweise auch von Leuten, die sonst gerne „Lügenpresse“ rufen.

Die rechte Szene hat jetzt ein Schlagwort, das sie völlig dekontextualisieren kann. Wir werden noch Jahre von der „Partyszene“ hören, die jetzt zu einem Code für „Ausländer“ werden wird, ich garantiere es euch. (Die Deutschen Tatverdächtigen [ohne Migrationshintergrund!], die verhaftet wurden, werden geflissentlich ignoriert.) Aber auch Politiker von rechts (nicht rechtsextrem!) können mit diesen Superlativen poltern, um wieder mehr Geld und mehr Befugnisse für die Polizei zu fordern. Um zu zeigen, wie doll sie gegen Verbrechen sind. Ja, das sind wir aber auch. Aber Deutschland ist zum dritten Jahr in Folge so sicher ist wie seit über 30 Jahren nicht mehr (Quelle). Aber man will die Realität an die Maßnahmen anpassen, die man fordern möchte. Nicht umgekehrt.

Aber für dieses Narrativ lässt Horst Seehofer für einen Presse-Termin extra ein kaputtes Polizeiauto vorfahren, das wirklich wie bei einer Show enthüllt wurde (Quelle). Ist das noch angemessene Kritik oder schon Propaganda?

Wenn gefühlte Wahrheiten Mainstream werden

Das Problem ist, dass sich niemand traut (außer anscheinend der Volksverpetzer), der gefühlten Wahrheit zu widersprechen, die jetzt „Mainstream“ ist. Weil es so wirkt, als würden wir uns gegen die Polizei stellen, und für Gewalt plädieren. Weil es so viel einfacher ist, diesen Strohmann auszupacken, anstatt die eigenen Vorteile zu hinterfragen. Weil nur noch schwarz und weiß existieren darf. Entweder ist etwas das größte Verbrechen oder harmlos. Nichts dazwischen. Wir plädieren nur für einen Mittelweg: Auf dem Teppich bleiben. Verurteilen, was passiert ist, ohne zu eskalieren. Sagen, was ist. Nicht sagen, was sich anfühlt. Sprachlich. Die Fakten sind da. Selbst wenn wir dafür beschimpft werden. Und dass wir das bei Nazi-Fakes können und Applaus und Preise dafür kriegen, ist toll.

Aber wenn wir „linksextrem“ und „verblendet“ sind, sobald unsere Faktenchecks, die nur der DJV-Richtlinie treu bleiben, einmal Übertreibungen der Polizei selbst aufdecken, dann hat unsere Gesellschaft ein Problem. Wir können uns nicht aussuchen, wo wir mit gefühlten Fakten arbeiten. Bei rassistischen Fakes nein, bei Polizei-Übertreibungen ok? Wir machen die Arbeit nicht, um einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen. Sondern weil Leute unsere Arbeit mit Spenden unterstützen. Weil wir unser Bestes geben, um bei der Wahrheit zu bleiben. Und das trotz der Morddrohungen von Nazis oder der Pöbeleien, wenn wir einfach nur Fakten wiedergeben, die selbst Presse, Politik und Polizei gar nicht so genau wissen wollen.

Artikelbild: Julian Rettig/dpa