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Kritik am RKI: Der meistgeteilte Beitrag in Verschwörungsgruppen kam vom ZDF

von | Mai 12, 2020 | Aktuelles, Kommentar, Social Media

Die „Lügenpresse“, die Verschwörungsideolog*innen lieben

Triumphierend wurde uns bei Volksverpetzer gestern vielfach ein ZDF-Beitrag in die Kommentare gepostet: „Corona-Zahlen: Kritik am RKI“ (Link). Tenor der Corona-Verharmloser*innen und Verschwörungsideolog*innen: Sogar die „Lügenpresse“ gibt unserer „Kritik“ jetzt Recht!

Der Beitrag war laut 1000flies.de der meistgeteilte Artikel in Facebook und Twitter. Und kein Wunder: Es war auch ein Filterblasen-Brecher. Nicht nur hat der „Mainstream“ es gelesen, auch in den Verschwörungsbubbles der „Corona“-Rebellen, die Bill Gates hinter dem Virus vermuten, das frei erfunden sei und überhaupt gar nicht schlimmer als eine Grippe, teilten den Beitrag massiv.

Es könnte der Gegenbeweis für „Diktatur“ und „Lügenpresse“ sein – Aber nein

Alle, die in irgendeiner Form dem RKI und der Regierung misstrauten, von sachlichen Kritiker*innen bis zu abstrusesten Verschwörungsgläubigen, sahen ihre Weltanschauung bestätigt. Dass es ein Hinweis darauf sein könnte, dass der „Mainstream“ und die Öffentlich-Rechtlichen vielleicht doch nicht „Lügenpresse“ sind, sondern auch Kritiker*innen zu Wort kommen lassen, ist jedoch naiv. Ich verstehe die Journalist*innen, die die ständigen Lügen-Vorwürfe fertig macht. Ich bin in einer gleichen Situation.

Dass auch wir Zahlen des RKI kritisch einordnen, oder die Krisenkommunikation der Bundesregierung kritisiert haben (mehr dazu) – geschenkt. Die ständigen Vorwürfe, wir würden lügen, wir werden bezahlt, wir seien auf Regierungslinie, egal wie bescheuert, nagen an einem. Man will beweisen, dass man eben doch „kritisch“ ist. Auch wenn man zuvor schon sachlich und abwägend gearbeitet hat. Aber genau durch diese pauschalen Lügenpresse-Narrative wird der Diskurs verschoben. Es wird das Narrativ gestreut, die Wahrheit liege irgendwo zwischen der seriösen Berichterstattung des ÖR und den Verschwörungsideolog*innen.

Beim ZDF hofft man vielleicht, jetzt die ewigen „Lügenpresser“-Rufer*innen zufrieden gestellt zu haben, in dem man der sachlichsten Kritik eine Bühne gegeben hat. Und schließlich bringt es auch massiv Klicks. Das ist sehr verlockend. Doch im Gegenteil: Man bestätigt alle Verschwörungsmythen, selbst wenn diese nichts direkt mit der Kritik am RKI zu tun hat. Dass sogar die „Lügenpresse“ „Kritik am RKI“ übt, ist einfach als Schlagzeile schon Bestätigung genug. Und letztlich wird auch das Narrativ bestärkt, dass der ÖR „sonst“ und „bisher“ „naiv“ und „unkritisch“ die Zahlen des RKI genutzt habe. Es ist ein Bärendienst.

Die Fehler von Pegida wiederholen

So wiederholt man allerdings die Fehler von Pegida und AfD, wenn man auf den Zug aufspringt und Verschwörungsideolog*innen nach dem Mund redet. Die Kritik muss auch eingeordnet werden. Sonst lädt man zu Sensationszwecken Verschwörungsideolog*innen in Talkshows ein und bietet diesen Dingen buchstäblich eine Bühne. Dass man sich so sehr bemüht, sachlich und fair zu sein wird nicht gesehen – im Gegenteil, die Hetze und der Hass wird dadurch bestätigt. UND man adelt die Verschwörungsmythen.

Nicht zuletzt dadurch, dass der Eindruck entsteht, bisher habe der ÖR (oder zum Beispiel wir) eben nicht Kritik am RKI oder an der Regierung geäußert oder abgewogen. So kommt es, dass Leute jede Lüge eines Youtubers aufsaugen, aber einen differenzierten Beitrag als von „Schlafschafen“ geschrieben kritisieren. Es sollte zwar nicht so sein, aber wichtiger als der Inhalt des Beitrags ist es, wie es aussieht. Denn mit Fakten und differenzierter Diskussion überzeugt man niemanden, der sein Weltbild weder faktenbasiert noch differenziert gebildet hat.

Und es gibt ein ungutes Zeichen: Rechtsextreme (Quelle) oder Verschwörungsideologen (Quelle) müssen einfach nur Kamerateams angreifen und schon knicken diese ein und berichten über unsachliche Corona-Kritik. Nicht, dass es so wäre, aber so wirkt das. Ich argumentiere hier den advocatus diaboli: Es geht darum, wie so ein Beitrag und eine Präsentation von z. B. Kritik am RKI wirkt, wenn diese nicht kritisch eingeordnet wird.

Kritik am RKI

Kommen wir konkreter zu der „Kritik am RKI“, die darin vorkommt: Ein formulierter Vorwurf: Das RKI veröffentlichte nur Infektionszahlen und Todeszahlen. Und das wäre „irreführend“. Aber das sind halt alle Zahlen, die die haben? Mehr Daten hat das RKI nun mal nicht. Das RKI wusste selber nicht, wie viele Tests gemacht werden, und konnte das daher auch nicht veröffentlichen. Sie haben nur das berichten können, was ihnen weitergegeben wurde.

Das RKI hat keine flächendeckenden Antikörpertests durchgeführt, wird kritisiert. Ja, aber das lag daran, weil es so wenig Fälle gibt, dass die falsch-positiv Rate der zu unspezifischen Antikörpertests zu sehr ins Gewicht fallen würde. Das ist ein uninformierter Vorwurf, der den Sachverhalt verzerrt widergibt. Dann der Vorwurf, dass das RKI von Obduktionen abgeraten habe. Ja, das war sicher falsch kommuniziert. Aber es hat ja niemanden aufgehalten, diese trotzdem durchzuführen, oder? Und es hat auch nichts an der Einschätzung geändert, dass an Corona nicht nur Menschen sterben, die „ohnehin bald gestorben“ sind. Es ist nachgewiesen, dass im Schnitt jede*r Tote etwa ein dutzend Lebensjahre verloren hat (Quelle).

Dann sollte der Lockdown „unnötig“ gewesen sein, weil R schon vor dem Lockdown unter 1 lag. Aber das ist krass verkürzt. Abgesehen davon, dass der Lockdown auch unter dem Eindruck der Bilder aus Italien entstand: Natürlich war der Lockdown nötig, um die Zahlen so schnell wie möglich zu senken. Das lag daran, dass sich die Leute schon vorher ans Social Distancing gehalten haben. Aber deshalb zu sagen, dass es nicht sinnvoll war, das gesetzlich vorzuschreiben, ist doch kein sinnvoller Schluss. Wir wollten R schneller und weiter senken. Dafür waren die Maßnahmen wichtig.

Einseitige Kritik am RKI

Ich argumentiere hier nicht dagegen, dass Kritiker*innen der Maßnahmen zu Wort kommen sollen, bevor jemand den Mund verdreht. Aber einfach nur diese Kritik zu wiederholen, ist fauler Journalismus. In dem Beitrag kommen auch ausschließlich Gegner*innen der Maßnahmen wie z. B. Lindner zu Wort. Das ist kein journalistisch neutraler Beitrag. Hier wird den Kritiker*innen nach dem Mund geredet, ohne das einzuordnen. Ja, das RKI könnte sich allerdings wirklich einen großen Gefallen tun, wenn mehr Daten veröffentlicht werden. Dann werden auch noch mehr Datenanalyst*innenen zu Fürsprecher*innen werden können, wenn sie die Daten und Schlüsse unabhängig vom RKI besser nachvollziehen können (mehr dazu).

Aber der Effekt ist ein anderer: Aus Angst vor noch weitergehender Kritik aus der Minderheit der Corona-Leugner*innen, Rechtsextremist*innen und Verschwörungsideolog*innen wird versucht, auch diese Stimmung einzufangen – eben weil man auch Minderheiten und kritische Stimmen inkludieren möchte. Aber letzten Endes lässt man sich dann nur dazu mobben, den Diskurs weg von Fakten und sachlicher Kritik zu verschieben. Klar, die behandelte Kritik am RKI im ZDF Beitrag war inhaltlich. Aber sie war auch verkürzt – und man hätte die Gegenseite darstellen sollen.

Wir dürfen uns nicht von Fake News erpressen lassen

Letzten Endes hat man die „Lügenpresse“-Rufer nur gestärkt und die Seriosität des RKI beschädigt. Wenn der ÖR es für eine gute Idee hält, seine bisherige differenzierte Berichterstattung zu verlassen, um die Menschen emotional abzuholen, werden sie nur zu Apologeten von Verschwörungsideolog*innen und Faschisten, die die Hygiene-Demos mitorganisieren und sie massenhaft unterwandern (mehr dazu). Unser persönlicher Kommentar: Es macht auch unsere Arbeit als Anti-Fake-News-Blog schwerer. „Sogar die Lügenpresse widerspricht euch jetzt, ihr Hetzer!“ durfte ich mit diesem Link lesen.

In deren Welt gibt es nur Schwarz und Weiß. Wir sind entweder „regierungskritisch“ oder „Fake News“. Und so können wir keine differenzierte Debatte führen. Wir sollen gezwungen werden, automatisch dem RKI und der Regierung zu widersprechen, sonst glaubt man uns nicht. Was wirklich stimmt, wird zweitrangig. Und wir werden in Schubladen gepackt, egal, wie differenziert wir Beiträge einordnen. Oder egal wie oft wir betonen, dass Kritik immer erwünscht ist, solange sie sachlich ist und man auf Gegenargumente hört. Wir dürfen nicht die gleichen Fehler von 2015 wiederholen.

Zum Thema:

Das sind die Menschen, die auf den Hygiene-Demos gegen eine „Diktatur“ demonstrieren



Artikelbild: ralphmeiling