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Der Hammer und der Tanz: Wir haben die Lockerungen zu früh begonnen

von | Apr 21, 2020 | Aktuelles, Analyse, Corona

„Ich bin froh in dieser dunklen Stunde etwas beitragen zu können.“

So äußert sich Thomas Puyeo im Podcast von Capital zu seiner Motivation Artikel wie „The Hammer and the Dance“ zu verfassen. Dieser und andere seiner Artikel wurden weltweit millionenfach geteilt und in dutzende Sprachen übersetzt. Mittlerweile berät Pueyo Regierungen darin, wie sie mit der Corona-Krise umgehen sollen und sein Narrativ über den Hammer und Tanz schaffte es sogar in das interne Strategiepapier des Innenministeriums.

Wir erklärten die Strategie des Hammer und des Tanzes hier:

Was getan werden muss, um bald wieder raus zu können: Der Hammer & der Tanz

Aber wo stehen wir gerade? Und wieso haben wir den Tanz zu früh begonnen?

Zunächst einmal eine erneute kurze Erklärung zum Hammer und dem Tanz:

Quelle: Thomas Pueyo

Grundsätzlich haben Regierungen 3 Optionen, um sich der Pandemie entgegen zu stellen: Nichts tun, Minderung (Mitigation) oder die Unterdrückungsstrategie (Hammer).

Der Hammer

„Die Unterdrückungsstrategie schlägt wie ein Hammer zu. Diese Strategie dient dazu, die exponentielle Verbreitung des Virus mit allen dem Staat verfügbaren Mitteln zu stoppen. Oder anders: Politik und Gesellschaft versuchen gemeinsam mit voller Wucht die Verbreitung des Virus erstmal platt zu machen. Auch unsere deutsche Regierung hatte den Hammer herausgeholt. Wichtig ist zu wissen, dass es verschiedene Versionen des Hammers gibt. (Kombination verschiedener harter Maßnahmen: zum Beispiel Deutschland hat das Kontaktverbot für Personengruppen über 2 erlassen, Italien hat zu ihrem Hammer der Ausgangssperren noch die Schließung von Firmen hinzugefügt). Und dass jedes Land je nach Situation und Stand der Epidemie einen anderen Hammer herausholen muss.

Aber egal welcher Hammer herausgeholt wird, jeder von ihnen verfolgt ein Ziel: Den Faktor R (Übertragungsrate) unter 1 zu bringen (kurz: wie viele Menschen kann eine infizierte Person anstecken, dazu gleich mehr), um damit die exponentielle Verbreitung des Virus aufzuhalten.“

Hier kurz zur Erinnerung zum Faktor R: (Faktor R/Reproduktionszahl = 2,5 = 406 angesteckte Personen nach 30 Tagen)

https://www.facebook.com/quer/photos/a.10150326943945728/10156611109210728/?type=3

Der Tanz:

Nachdem man es mit dem Hammer geschafft hat, R tief nach unten zu drücken (soweit unter 1 wie nur möglich), kann man dann mit dem Tanz beginnen.

Quelle: Thomas Pueyo

Puyeo meint damit den „Tanz“ um das R herum. Wenn der Hammer gefallen ist, sind wir im besten Fall an einem Punkt, an dem R deutlich weniger als 1 beträgt. In der chinesischen Region Hubei ging man mit dem Hammer (der besonders hart war) auf einen Faktor R bis auf 0,32 herunter. Soviel braucht man im Zweifel aber gar nicht. Ihr müsst auch wissen, dass das hier keine präzise Wissenschaft ist, denn das Verhalten von Menschen vorhersehen kann man niemals auf den Punkt genau.

Die Politiker*innen wissen lediglich, dass sie R auf unter 1 bringen müssen. Wenn aber klar ist, dass sich unsere Gesellschaft nach unserem Hammer bei R unter 1 aufhält, können die Politiker*innen den Menschen auch wieder Freiheiten zurückgeben, solange wir unter dem Faktor 1 bleiben. In der Grafik könnt ihr sehen, welche Maßnahmen und Umwelteinflüsse sich auf den Faktor R auswirken und in welcher Deutlichkeit.(Hier handelt es sich um ein theoretisches Modell, damit man sich das besser vorstellen kann).

Wenn Maßnahmen zurückgenommen werden, kann es aber auch passieren, dass wir wieder über R=1 landen. Dann muss die Politik leider wieder überlegen, wie man einen Schritt zurückgehen kann. Vor und zurück, wie bei einem Tanz. Politik und Gesellschaft müssen so schnell wie möglich lernen, diesen Tanz gemeinsam durchzuführen.

Das ist also die grundlegende Strategie vom Hammer und dem Tanz.

Jetzt zum wichtigen Teil. Wieso sind wir zu früh dran mit dem Tanz?

Pueyo hat einen neuen Artikel verfasst (Learning how to dance), aus welchem ich euch eine Grafik zeigen möchte (zu seinem neuen Artikel werden wir einen später noch zusätzlichen Artikel erstellen.(Update: Hier ist der Artikel „Wir müssen lernen zu tanzen“) Wer des Englischen mächtig ist, kann sich das natürlich das Original durchlesen):

Quelle: Thomas Puyeo

Laut Pueyo sind wir in Deutschland auf einem guten Weg, aber immer noch mitten in der Phase des Hammers, in der es darum geht, die Kurve der Neu-Infizierten weiter abzuflachen (hier der kurze Hinweis, dass Pueyo meint, dass einige Länder sich schon im Dance befinden, obwohl sie noch nicht die Phase des Hammers abgeschlossen haben). Nach dem Stand heute (21.04.20) sind wir in Woche 5 seit dem Erlass unseres Hammers (Kontaktverbot). Wir haben also die Möglichkeit die Kurve noch weiter nach unten zu drücken. Damit wollen wir zwei Ziele erreichen:

1. Unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren, was wir bisher geschafft haben

Unsere Freunde vom Katapultmagazin haben die Situation der Intensivbetten (Stand 18.04.) hier sehr schön aufgearbeitet: Sie schreiben dazu:

„In Deutschland ist die Anzahl der belegten Intensivbetten in den letzten drei Tagen von 12.783 auf 16.370 gestiegen. Trotzdem gibt es derzeit mehr freie Intensivbetten als vor drei Tagen, weil auch die Gesamtzahl der gemeldeten Intensivbetten zugenommen hat: von 22.271 auf 27.974. Wegen COVID-19 liegen heute 117 Menschen mehr auf einer Intensivstation als vor drei Tagen. Die Gesamtzahl ist von 2.555 auf 2.672 gestiegen. Die Corona-Sterberate ist in deutschen Krankenhäuser unter anderem auch deshalb niedriger als in anderen Ländern (wie beispielsweise Italien und USA), weil es bisher keine Überlastung des gesamten Intensivpflegesystems gegeben hat.“

https://www.instagram.com/p/B_HuippD91l/

2. Die Fälle der Neu-Infizierten pro Tag soweit runter zu bringen, dass sie für die Ämter wieder nachverfolgbar werden.

Man spricht hier auch von der „Containment“-Phase. Wir gingen hierauf genauer in unserem Artikel „Wir müssen zurück zu Phase 1“ ein:

Nochmal anders erklärt. Das Ziel unserer jetzigen Handlungen (Gesellschaft und Politik) zielt darauf ab, wieder in einen Zustand zu kommen, wo Containment überhaupt möglich ist. Zur Erinnerung: Der jetzige Stand ist zu hoch, als dass die Behörden allen Fällen nachgehen können. Die Zahl der Neu-Infizierten muss so tief fallen, dass die Ämter wieder hinterherkommen, die Kontaktketten zurückverfolgen zu können. Um alle Fälle frühzeitig in Quarantäne unterbringen zu können.

Wenn sich jeden Tag zum Beispiel nur 100 neue Leute infizieren, können die Behörden es schaffen, diesen Fällen nachzugehen und das Virus so “einzudämmen”. Die Gesellschaft bekommt an diesem Punkt der Corona-Geschichte wieder Freiheiten zurück, solange wir gemeinsam dafür sorgen, dass R und damit die Zahl der Neu-Infizierten niedrig bleibt. Manche*r fragt sich hier, was diesmal anders laufen sollte, wenn wir wieder bei Phase 1 sind, das Virus könne ja wieder ausbrechen. Unterschied: Es gibt keine Großveranstaltungen mehr, bei denen sich Hunderte von Leuten gleichzeitig anstecken können, weil nur eine infizierte Person vor Ort ist (wie soll man nachvollziehen können, wer sich wie bei wem und wie viele bei einer Großversanstaltung angesteckt haben? = Containment erst jetzt überhaupt möglich nachdem Großveranstaltungen nicht mehr erlaubt sind).

Hier könnt ihr euch ein eindrucksvolles Beispiel anschauen: Anhand des Spring Breaks in den USA kann man sehen, warum Großveranstaltungen erstmal geschlossen bleiben müssen:

Die Wissenschaftsjournalistin MaiLab erklärt das hier auch nochmal bei Markus Lanz:

So, aber wie ist denn der aktuelle Stand der Neu-Infizierten pro Tag?

Schauen wir uns die Zahlen vom Johns Hopkins Institut an:

Screenshot Webseite John Hopkins Institut, Zahl der Neu-Infizierten in Deutschland pro Tag (hier zum selbst nachschauen)

Laut RKI standen wir zeitweise bei R=0,7, was tendenziell schon mal ein mega guter Wert ist. Doch leider ist R jetzt schon wieder am steigen:

 

Am 20.04. wurden 1900 Neu-Infizierte gemeldet. Die niedrigste Zahl an Neu-Infizierten der letzten Wochen hatten wir am 14.04. mit etwa 1300. Damit die Fälle der Neu-Infizierten für unsere Ämter wieder nachverfolgbar werden können, müssten wir die Zahl der Neu-Infizierten pro Tag aber am besten weit unter 1000 drücken (das haben zum Beispiel Länder wie China und Südkorea geschafft). Und jetzt kommen wir zum eigentlichen Problem.

Wir haben zu früh mit dem Tanz begonnen!

Wir sind mitten in der zuvor erwähnten Phase des Tanzes. Der Phase, in der Bürger*innen Freiheiten zurückgegeben werden sollen und in der Politik und Gesellschaft zusammen geschaut wird, was funktioniert und welche Maßnahmen man aufheben kann. Aber dafür sind wir mindestens drei Wochen zu früh dran! Wir hätten noch ein paar Wochen länger durchhalten können, um die Zahl der Neu-Infizierten pro Tag weiter abzusenken und in einen Zustand zu gelangen, in welchen unsere Ämter nahezu die volle Kontrolle über die Ausbreitung des Virus hätten erlangen können (Fälle verfolgen, zu Hause isolieren, Kontaktketten nachverfolgen und brechen).

Jetzt werden erste Maßnahmen wieder gelockert. Aber wie wird sich das auf den Faktor R, also auf uns auswirken? Es wird sicherlich nicht dazu führen, dass wir R weiter reduzieren und es wird auch nicht dazu führen, dass wir die Zahl der Neu-Infizierten weiter herunter drücken. Dieses Vorgehen birgt das Risiko einer zweiten Welle. Singapur wurde zum Beispiel von einer solchen erfasst (Quelle). Dies kommentierte auch der renommierte Virologe Christian Drosten:

Wieso konnten wir nicht noch ein paar Wochen mehr durchhalten?

Mir ist bewusst, dass die derzeitige Situation viele Menschen belastet, sei es finanziell oder psychisch. Aber wir haben diesen Weg nun mal eingeschlagen! Nichts wäre schlimmer, als wenn wir durch einen zweiten Ausbruch unsere ganzen Bemühungen selbst torpedierten und wieder harte Maßnahmen ergriffen werden müssten. Wir dürfen nicht leichtsinnig werden, nur weil wir es geschafft haben, Bilder wie in Bergamo (Italien) und New York (USA) verhindert zu haben, als mit Wagenkolonnen Leichen abtransportiert wurden.

Dazu vielleicht auch ein Blick in die Vergangenheit:

Das ist 1918 in Denver passiert, als man die Pandemie-Maßnahmen zu früh aufhob

Und damit mich ja keine*r falsch versteht: Ich will auch so schnell wie möglich zurück zur Normalität, aber deswegen dürfen wir nicht in Wunschvorstellungen verfallen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir immer noch in einer weltweiten Pandemie stecken, auch wenn wir in Deutschland bisher mit einem blauen Auge davon gekommen sind. Wie sagte Christian Drosten in seinem Podcast vom 12.03.:

„There is no glory in prevention.“

Wer wissen möchte wie die nächsten Monate aussehen könnten, kann das hier nachlesen:

Corona besiegen: Wir müssen lernen, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen

PS: Der Hammer & der Tanz ist die Kurzform einer Strategie zur Bekämpfung einer Pandemie und unser Weg zurück zur Freiheit. Teilt den Original-Artikel oder diese verkürzte Version mit Freund*innen und der Familie, stellt ihn gerne in eure WhatsApp Gruppen. Und falls ihr nicht davon überzeugt seid, dass gewisse Politiker*innen (zum Beispiel euer Wahlkreisabgeordneter) diese Informationen haben, schickt auch ihnen den Artikel. Danke.



Artikelbild: Thomas Pueyo (Bearbeitung durch Volksverpetzer)