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Fake! KEIN „Impfzwang“ – Wie ihr über das Infektionsschutzgesetz belogen werdet

von | Mai 4, 2020 | Aktuelles, Analyse, Corona

Impfzwang-Mythos zerstört

Corona-Maßnahmengegner*innen, Verschwörungsideolog*innen, QAnon-Anhänger*innen, Impfgegner*innen und alle, die sich in Vereinigungen wie „Widerstand2020“ (mehr dazu) oder auf den „Hygiene-Demos“ (mehr dazu) sammeln, scheinen derzeit massivst Fake News und einen Verschwörungsmythos über einen vermeintlichen „Impfzwang“, der am 15.05.2020 eintrete, zu verbreiten. Es wird behauptet, die Demokratie werde „abgeschafft“, wer sich nicht impfen lassen würde, „verliere alle Grundrechte“. Und das alles stehe in der Neuerung des Infektionsschutzgesetzes. Das ist natürlich frei erfunden.


Schauen wir mal auf die Faktenlage, schauen wir auf das, was in Videos, Memes und Artikeln gerade die Gemüter erhitzt. Wir haben uns dieses Video, das 800.000 mal angesehen wurde und die Vorwürfe darin, angeschaut und sie geprüft. Es geht um das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) und einen angeblich am 29.04.2020 durch das Bundeskabinett beschlossenen „Impfzwang“ als Inhalt einer Gesetzesänderung. Diese wiederum soll der Bundestag am 14.05.2020 auf der Tagesordnung haben (Quelle).

Infektionsschutzgesetz (IfSG)

Was regelt dieses IfSG überhaupt? Hier einmal die passende Einleitung bei Wikipedia: „Das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) regelt seit dem 1. Januar 2001 die gesetzlichen Pflichten zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen. Zweck des Gesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern (§ 1 Abs. 1 IfSG). Dabei ist unerheblich, welcher Art die Infektion ist und auf welchem Wege die Infektion erfolgen kann.“

Achtung, jetzt wird es vielleicht etwas detailliert, aber mit aufgeregten Meinungen kommen wir hier nicht mehr weiter, jetzt sind Fakten gefragt. Schauen wir uns einfach einmal das Gesetz und die angegriffenen Punkte an. Die Paragraphen 24-32 regeln die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, wie § 24 Feststellung und Heilbehandlung übertragbarer Krankheiten, Verordnungsermächtigung, § 28 Schutzmaßnahmen oder § 32 Erlass von Rechtsverordnungen (Quelle).

Hierzu schauen wir uns den §28 in aktueller Fassung an, der derzeit angegriffen wird:

Rechtliche Grundlage der Einschränkungen

Dieser Paragraph regelt Infektions-Schutzmaßnahmen des IfSG, in aktueller Form in Kraft getreten am 28.03.2020. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die aktuellen Pandemie-Maßnahmen, von denen wir ja alle betroffen sind, hier ihre gesetzliche Grundlage haben. Also Versammlungsverbote, Ausgangsbeschränkungen und so weiter. Von einem „Impfzwang“ steht hier immer noch nichts. Die Verhältnismäßigkeit, Art der Maßnahmen und Sanktionen wurden und werden hier geregelt:

Es steht allerdings auch darin, dass die Schutzmaßnahmen mit Widerspruch und Anfechtungsklage angefochten werden können. Ein faktisches Versammlungsverbot, wie es beispielsweise die Maßnahmen in Niedersachsen darstellten, wurde vom Verfassungsgericht Hannover gekippt – und die Maßnahmen zwischenzeitlich geupdatet. Das ist kein Zeichen dafür, dass Unrecht in unserem Land geschieht, sondern im Gegenteil, dass der Rechtsstaat funktioniert, oder (mehr dazu)? Genau so funktioniert Gewaltenteilung. Und genau deshalb leben wir in keiner Diktatur.

Der aktuelle Änderungsentwurf: Keine Spur von „Impfzwang“

Kommen wir nun zum kritisierten aktuellen Änderungsentwurf, der auf der Website des Bundesministeriums für Gesundheit downloadbar ist (Quelle). Ihr könnt das alles selbst nachprüfen. Dessen zentrale Punkte werden in der Einleitung aufgeführt, den angegriffenen Punkt habe ich euch einmal markiert:

Merkt euch bitte einmal diesen Satz, wir werden ihn im Verlauf gleich noch wiedererkennen. Er sagt quasi aus, dass entsprechend eine Immunität gegenüber Covid-19 durch separate Dokumentation oder durch Einträge in einen Impfausweis nachgewiesen werden könnte, analog zu bisherigen Impfdokumentationen. Jetzt schauen wir auf die vorgeschlagene Änderung und wie sie sich auf unseren § 28 auswirken soll:

Also: Man will auf „angemessene Weise“ und „nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft“ nachweisen, dass eine Person aufgrund einer möglichen bestehenden Immunität oder Impfung die Krankheit nicht mehr übertragen kann. Wenn das der Fall ist, könnte diese Person dann von den getroffenen Maßnahmen ausgenommen werden. Denn sie ist weder der Gefahr durch das Virus ausgesetzt noch kann sie andere Personen anstecken. Logisch, oder?

Ist das ein „Impfzwang“?

Selbstverständlich hat dies nichts mit einem Impfzwang zu tun, wie Betrüger*innen und Verschwörungsideolog*innen derzeit behaupten. Ihr Argument geht so: Da aufgrund der Pandemie gewisse Maßnahmen getroffen werden, um unser aller Leben zu schützen, beschneiden diese Maßnahmen auch – im Einklang mit dem Grundgesetz – einige unserer Rechte. Das ist nicht an sich verwerflich. Bei Rot über die Ampel zu fahren, beschneidet auch theoretisch deine Rechte, aber es ist sinnvoll, weil man damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit von vielen Menschen schützt. So auch jetzt in einer globalen Pandemie.

Einzelne Details in den diversen Maßnahmengesetzen werden ja auch vor Gericht in Bezug auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft und angepasst. Das ist der beste Beweis, dass wir in einem funktionierenden Rechtsstaat leben. Gerichte verhandeln und öffentliche Debatten findet ja statt. Der internationale Vergleich zeigt auch, dass unsere Maßnahmen wohl bis jetzt viele Leben gerettet haben (mehr dazu). Das Argument geht weiter: Wer bereits gegen Corona immun ist, durch eine hypothetische Impfung oder weil er die Krankheit überstanden hat, für den gibt es ja keinen Grund, auch von den Maßnahmen betroffen zu sein, richtig?

Anstatt diese Novelle also als Gesetzesvorschlag zu sehen, wie man nach und nach immer mehr Menschen ihre Freiheiten zurückgeben kann, drehen Impfgegner*innen die ganze Geschichte auf den Kopf. Denn falls – und es ist falls, es ist wissenschaftlich noch nicht ganz klar, ob man nach der Gesundung von Covid-19 immun ist – es eine Immunität geben könnte, muss man das ja auch irgendwo dokumentieren und nachweisen, oder? Das ist besagte „Impf- oder Immunitätsdokumentation“. Woher soll man es denn sonst wissen?

Aber: Die Impfung gibt es noch lange nicht

Verschwörungsideolog*innen argumentieren jetzt, dass man so erst wieder alle Grundrechte zurückerhalten könnte, wenn man sich gegen Corona impfen ließe. Sie unterstellen jedoch, dass erstens die Maßnahmen aus unerklärlichen Gründen für immer bestehen bleiben würden, was sie erst einmal beweisen müssten (Das ist eine großspurige Behauptung, die irgendwie ignoriert wird). Und zweitens unterschlagen sie, dass das selbstverständlich auch für „natürliche“ Immunisierung gilt. Falls diese denn möglich sein sollte. Nochmal: Das ist alles nur ein „falls“.

Wer sich nicht impfen lassen will, könnte sich ja auch mit Absicht anstecken, hoffen, die Krankheit ohne bleibende Schäden zu überleben (das ist auch noch unsicher) und dann theoretisch auch immun sein. Und das dokumentieren lassen. Ein „Impfzwang“ existiert also de facto nicht.

Der größte Denkfehler ist allerdings dieser: Wie soll in zwei Wochen ein Impfzwang für eine Impfung eingeführt werden, die es noch gar nicht gibt? Und mindestens noch ein Jahr nicht geben wird (eben weil man ihn genau erforschen und testen muss, um seine Sicherheit zu garantieren). Das ist der fundamentale Denkfehler und der Grund, warum dies nichts weiter ist als Impfhysterie und ein Verschwörungsmythos. Denn die Impfung gibt es noch nicht und auch eine Immunisierung könnte eventuell es nicht geben. Dann hat das Gesetz keinerlei Auswirkungen.

Wie die Wirklichkeit aussieht:

Halten wir also fest: Die noch zu verabschiedende (sie gilt noch nicht, das ist nur ein Entwurf!) Novelle regelt keineswegs die Abschaffung unserer Grundrechte, sondern zeigt einen Weg auf, wie Menschen individuell von den notwendigen Pandemie-Maßnahmen, die im Einklang mit dem Grundgesetz ausgehandelt werden, befreit werden können. Der aktuell skizzierte Weg heißt keineswegs Pflichtimpfung, auch eine nachgewiesene Immunität (ich persönlich hoffe ja, dass eine überstandene Infizierung diese bedingt) ist absolut gleichgestellt.

Es handelt sich nur um einen Entwurf und nur um eine Möglichkeit, so vielen Menschen wie möglich so viele Freiheiten wie möglich zurück zugeben, ohne damit die Gesundheit und das Leben von vielen Millionen Menschen auf’s Spiel zu setzen. Was ist denn die Alternative? Fragt die Menschen einmal, die Panik vor einem „Impfzwang“ verbreiten: Sollen Menschen, die immun sind, das nicht nachweisen können? Sollen sie weiterhin (relativ grundlos) von den Maßnahmen betroffen sein? Wie sähe eine bessere Lösung aus? Und wenn ihr eine bessere Lösung kennt: Warum schlagt ihr diese nicht vor?

Nein, die meisten Menschen, die diesen Unsinn verbreiten, leugnen nämlich auch das Coronavirus an sich oder dessen Gefährlichkeit. Und dann liegt das Problem nicht darin, was für Gesetzesentwürfe gerade durchgeführt werden oder ob sie absichtlich oder unabsichtlich falsch interpretiert werden, um Klicks und Aufmerksamkeit zu generieren, sondern es geht noch tiefer in Verschwörungsmythen und Fake News hinein. Den aktuellen Stand der Wissenschaft haben wir hier zusammengefasst:

Stanford-Studie: Warum Corona definitiv tödlicher ist als die Influenza

Fake News-Pandemie

Das Problem an diesen Fake News ist nicht, dass es einen „Impfzwang“ geben wird, oder dass irgendwelche Grundrechte ohne guten Grund eingeschränkt werden. Das ist nämlich nicht der Fall. Zumindest für alle Menschern, die noch in der Realität leben. Das Grundproblem ist, dass es immer mehr Menschen gibt, die sich danach sehnen, zur Normalität zurückzukehren und dabei verzweifelt nach jeder Information greifen, die ihnen dieses Versprechen vermeintlich erfüllt. Das ist ja auch normal und verständlich. Wir wollen alle Normalität wieder. Aber davon wird die Gefahr von Corona nicht auf magische Weise kleiner.

Wer am lautesten schreit, hat nicht immer Recht. Wir leben in einer funktionierenden Demokratie und bei uns ist das Gesundheitssystem noch nicht, wie in manchen anderen Ländern, zusammengebrochen, eben weil die Maßnahmen, die kurzzeitigen Einschränkungen, ihre Wirkung zeigen. Nicht trotz dessen. Betrüger*innen, die Geld und Aufmerksamkeit wollen, indem sie euch gruselige Märchen von „Impfzwang“, „Bill Gates“ und Co. erzählen, nutzen eure aufrichtige Hoffnung nur aus. Sie lassen Details weg und belügen euch mit reißerischen Titeln und Sharepics.

Doch nur weil ihr Angst habt und verunsichert seid, werden ihre Lügen nicht wahr. Wir stecken alle gemeinsam in dieser Situation. Halten wir zusammen. Denn nicht die Regierung oder die Medien sind dein Feind. Klar, wir müssen immer kritisch hinschauen, aber das wird ja auch von vielen gemacht, die keine Verschwörungsmythen teilen. Kritisch sein macht dich nicht zu einem*r Verschwörungsideolog*in. Fake News zu verbreiten schon. Leute, die dir etwas anderes erzählen, wollen nur davon profitieren, dass du das glaubst. Denn dann folgst du nur noch ihnen und kaufst ihre überteuerten Wundermittelchen.

Aber denkt wirklich für euch selbst und schaut euch die Dinge kritisch an, bevor ihr sie glaubt. Nicht nur das, was Merkel und die Regierung machen. Sondern auch das, was euch die Youtube-Videos und Sharepics erzählen wollen. Bleibt gesund und haltet durch. Danke.

Zum Thema:

Hey, ihr Corona-Schwurbler: Ihr seid nicht „kritisch“, ihr seid peinlich!



Autoren: Marcello Orlik, Thomas Laschyk. Artikelbild: Screenshots facebook.com