GASTBEITRAG VON FLORIAN AIGNER, PHYSIKER UND AUTOR
Rhetorisch brav, inhaltlich jämmerlich: Konstantin Kisin setzt in einer viral gegangenen Oxford-Union-Rede Klimaschutz mit Krankheit und Verderben gleich und bekommt dafür auch noch Applaus.
Konstantin Kisin, ein russisch-britischer Satiriker, hat eine Rede gehalten. Und sie ist viral gegangen. In wenigen Minuten attackiert er vor der Oxford-Union mit souveräner Stimme und wohlgewählten Worten das, was er „woke culture“ nennt. Die Klimabewegung ist für ihn ein Teil davon – sie ist das Hauptziel seiner hämischen Angriffe.
Kisin hält brav und vorbildlich alle Regeln ein, die man in britischen Debattierklubs lernt. Er wirkt überzeugend, kultiviert und überlegen. Inhaltlich aber ist seine Rede eine heimtückische Irreführung, eine intellektuell hinkende Attacke auf einen selbstgebastelten Strohmann, eine bewusste Verdrehung dessen, wofür die Klimabewegung steht. Konstantin Kisins Rede ist wie mit dem Flugzeug abzustürzen, während man Mozarts Klavierkonzerte hört: Es klingt eigentlich recht erfreulich, ist insgesamt aber trotzdem eine Katastrophe.
„Zu den Füßen der Heiligen Greta“
Es lohnt sich gar nicht, auf seine billige Polemik gegen „Wokeness“ einzugehen, oder auf seine herablassenden Scherze über junge Leute, die „zu Füßen der Heiligen Greta des Klimawandels“ ihre „Anbetungen“ zelebrieren. Wenn Kisin Sorgen über einen Klimawandel, der vorhergesagt wurde, der dann tatsächlich eingetreten ist, und der nach all unseren Modellen verheerende Auswirkungen haben wird, mit irrationaler religiöser Verehrung gleichsetzt, hat er darauf keine Erwiderung verdient. Wenden wir uns lieber dem zu, was danach kommt:
Konstantin Kisin kommt mit dem vielleicht lahmsten Argument, das man in Klimafragen überhaupt bringen kann: Großbritannien ist doch nur für zwei Prozent der globalen Emissionen verantwortlich! Selbst wenn das ganze Land im Meer versinkt, kann das nichts ändern!
Abgesehen davon, dass es sich hier wieder um einen fragwürdigen rhetorischen Trick handelt – er setzt Klimaschutz mit dem Versinken Großbritanniens gleich, also mit etwas Fürchterlichem – ist das natürlich ein völlig irrationales Argument. Einen Schaden, der von der ganzen Menschheit gemeinsam verursacht wird, kann man selbstverständlich immer so aufteilen, dass jeder einzelne Teil egal ist.
Strohmann-Argument: Niemand soll alleine das Klima retten
Ich kann die gesamte Menschheit nach dem Geburtstag in 365 Gruppen aufdröseln. Keine dieser Gruppen spielt für den Klimawandel eine entscheidende Rolle! Lasst doch die armen Leute in Ruhe, die am 25. Dezember geboren wurden! Die sind doch wirklich egal! Warum sollen die sich einschränken? Das rettet doch die Welt nicht, wenn alle anderen weitermachen wie bisher!
Ja, das stimmt. Aber es ist ein dummes Argument. Niemand hat je behauptet, dass die am 25. Dezember geborenen alleine die Welt retten sollen. Genau wie niemand je behauptet hat, dass Großbritannien alleine die Welt retten soll. Jeder von uns ist eine Minderheit, verglichen mit dem Rest der Welt. Und jeder von uns ist isoliert betrachtet völlig egal für den CO2-Ausstoß der Menschheit. Den CO2-Ausstoß der Menschheit insgesamt gibt es aber trotzdem. Wenn ich eine Kapsel Blausäure schlucke, ist jedes einzelne Molekül Blausäure beinahe egal. Aber am Ende bin ich trotzdem tot.
„Denkt doch an die armen Kinder!“
Kisins Überzeugung ist: Der Klimawandel wird in Asien und Lateinamerika entschieden! Jetzt könnte man natürlich sein voriges zwei-Prozent-Argument gegen ihn drehen und ihm unter die Nase reiben, dass Peru oder die Region um Peking ebenfalls nur für einen kleinen Teil der CO2-Emissionen verantwortlich sind. Aber sinken wir nicht auf Kisins Niveau: Dass insbesondere Ostasien eine Schlüsselrolle für die Rettung des Klimas spielt, ist durchaus richtig. Was bedeutet das nun?
Jetzt quetscht Kisin die Tränendrüsen: Den Leuten dort sei das Klima egal – sie seien nämlich arm. Viele Leute haben keine ordentlichen Toiletten oder nicht genug zu essen – wie soll ihnen da Klimaschutz ein Anliegen sein?
Das ist leicht beantwortet: Gar nicht. Niemand, der auch nur irgendetwas von Klimawandel versteht, hat je gefordert, dass arme Leute, die hungern und keine ordentlichen Sanitäranlagen haben, sich für den Klimaschutz einsetzen. Das müssen sie auch nicht: Ihr Einfluss auf den Klimawandel ist auch sehr gering. CO2-Emissionen korrelieren stark mit dem Einkommen: Reiche Leute schädigen das Klima viel stärker als arme Leute. In Eritrea beträgt der durchschnittliche CO2-Ausstoß pro Person 0,2 Tonnen pro Jahr, in den USA sind es 15,5 Tonnen pro Jahr. Und das ist immer noch lächerlich wenig, verglichen mit den CO2-Emissionen, die auf extrem reiche Menschen zurückgehen: Eine Luxusyacht kann schon mal 7000 Tonnen CO2 im Jahr ausstoßen.
Wer arm ist, kann nichts gegen die Klimakrise tun – muss das aber auch nicht
Wir können Leute in wirtschaftlich aufstrebenden Weltregionen nicht dazu bringen, freiwillig arm zu bleiben, meint Konstantin Kisin. Und damit hat er selbstverständlich recht. Allerdings hat auch das nie jemand befohlen, gefordert oder auch nur angedeutet. Strohmann-Argument.
Und nun kommt Kisins großes Finale: Er zieht ein großes Problem auf eine persönliche Ebene, mit der man sich leicht verbunden fühlen kann – ganz so, wie das der brave Rhetorikschüler lernt: Er hat einen kleinen Sohn, erzählt Kisin. Und wenn er nun die Wahl hätte, diesen Sohn dem Risiko des Verhungerns oder des Todes durch leicht zu verhindernde Krankheiten auszusetzen – oder aber einen Knopf zu drücken und dadurch seinen Sohn in Glück und Zufriedenheit aufwachsen zu sehen, wobei allerdings jeden Tag eine gewisse Menge CO2 freigesetzt wird: Wer würde da nicht sofort den Knopf drücken! Die Menge applaudiert.
Was hier passiert ist, und erschreckend viele durchaus kluge Leute dazu verleitet hat, Kisins Tirade gegen den Klimaschutz unkritisch in sozialen Medien zu verbreiten, ist leicht analysiert: Kisin greift zum rhetorischen Trick, Klimaschutz mit Hunger, Krankheit und Tod zu verknüpfen. Das ist auf demselben Niveau wie die Drohung: „Immer wenn du lügst, stirbt irgendwo ein Kätzchen!“ Kisin ist nur geschickter darin, die völlig fehlende Logik dieser Aussage zu verstecken.
Nein, niemand fordert Armut
Die Hauptthese dieser Rede wird gar nicht ausgesprochen – sie wird trotzdem mit perfider Klarheit präsentiert: Klimaschutz heißt angeblich, dass alle arm sein müssen. Dass Kisins Sohn keine Toiletten, kein Essen, keine medizinische Versorgung hat. Dass arme Weltregionen für immer arm bleiben, und dass wir im reicheren Westen arm werden müssten. Und das ist himmelschreiender Unfug. Das widerspricht nicht nur ökonomischen Fakten, es entspricht auch nicht den Forderungen von Greta Thunberg oder andren prominenten Leuten der Klimabewegung.
Im Gegenteil: Es ist längst Konsens, dass der Kampf gegen Klimawandel in Kombination mit sozialem Ausgleich gedacht werden muss. Bei Klimakonferenzen wird jetzt über Ausgleichszahlungen für Klimaschäden gesprochen – noch viel zu wenig, aber ein wichtiger Schritt. Gerade CO2-Besteuerung (und die Auszahlung der Einnahmen daraus als Klima-Dividende für alle) könnte eine sehr effektive Maßnahme gegen Armut und Ungleichheit sein.
Verzicht und Armut sind auch nicht die Lösung für das Klimaproblem!
Konstantin Kisin hat banalerweise recht, wenn er sagt, dass Verzicht und Armut für alle nicht die Lösung für das Klimaproblem sein kann, und dass wir nur mit wissenschaftlichen und technologischen Innovationen eine klimafreundliche Welt schaffen können. Aber wer bestreitet das? Wie kommt er auf die schräge Idee, die Jugend, die auf der Straße gegen den Klimakollaps protestiert, könnte das anders sehen? Es ist als würde man fordern, die Wasserleitung abzudrehen, weil sie mit tödlichen Bakterien verseucht ist, und als Antwort bekommen: „Aha! Du willst also, dass wir alle verdursten!“ Nein, das ist nicht die Alternative! Das hat niemand gefordert oder auch nur einen Augenblick lang in Betracht gezogen. Das Ziel ist sauberes Wasser – eine nachhaltige Lösung für alle, die uns erlaubt den potenziell verheerenden aktuellen Status zu verändern.
Kisin arbeitet hier mit falschen Dichotomien: Er gaukelt uns vor, uns zwischen Nichtstun und einer üblen Situation entscheiden müssen, damit das Nichtstun möglichst attraktiv aussieht. Und er verschweigt, dass die Lösung selbstverständlich keine dieser zwei Varianten ist, sondern dass es eine viel bessere dritte Variante gibt.
Ja, wir brauchen technische Innovationen, um das Klima zu retten. Aber die technischen Innovationen sind keine Zukunftsmusik – sie sind bereits da. Zum Glück ist in den letzten Jahrzehnten viel geschehen: Photovoltaik und Wind sind zu den billigsten Energieformen geworden. Elektrische Fahrzeuge werden bald kostengünstiger sein als Autos mit Verbrennungsmotor. In der Stadtplanung hat man verstanden, dass die Lebensqualität steigen kann, wenn man die Stadtplanung nicht an Autos, sondern an Menschen ausrichtet. All das ermöglicht gewaltige CO2-Einsparungspotenziale ohne Hunger, Verzicht und Tod. Ganz im Gegenteil: In vielen Bereichen können wir genau dadurch sogar besser leben als bisher.
Nein, niemand will unsere Fehler kopieren
Und was ist mit den Ländern, in denen die Entwicklung noch nicht so weit ist? Wenn wir ein Zeitalter von Kohlekraftwerken, Benzinautos und Gasheizungen durchlebt haben. Haben dann nicht andere Länder genau dasselbe Recht auf so eine Phase, bevor sie uns nachfolgen und eines fernen Tages vielleicht klimaneutral werden? Und wenn das so lange dauert – ist dann nicht ohnehin alles verloren, sodass wir ohnehin gleich auf jede Anstrengung verzichten können?
Nein – natürlich nicht. Im Gegenteil: Wenn technologisch höherentwickelte Länder effektive Klimamaßnahmen setzen, hat das sogar einen mehrfachen Vorteil: Sie sparen selbst CO2-Emissionen ein, und sie wirken als Vorbilder für andere Länder, die diese Technologien selbstverständlich ebenfalls haben wollen, wenn sie sich bewähren. Wenn Photovoltaik billiger ist als Kohlekraft – warum sollte dann irgendwo auf der Welt noch jemand Kohlekraftwerke bauen?
Dieses Phänomen ist längst bekannt: Man nennt es „Leapfrogging“. Es gibt keinen vorgezeichneten Entwicklungsweg, den jede Gesellschaft durchmachen muss. Manche Länder haben das Stadium des Festnetztelefons einfach übersprungen und gleich Mobiltelefonie eingeführt. Genauso kann man auch klimaschädliche Phasen überspringen und gleich klimafreundliche Technologien einführen.
Sorry Kisin, Klimaschutz ist in wahrheit gut für die Wirtschaft
Leute wie Kisin, die vor Verzicht und wirtschaftlichem Niedergang warnen und stattdessen hohl mehr Forschung und Innovation fordern, machen gleich mehrere Fehler: Erstens fordern sie etwas, das ohnehin nie zur Debatte stand: Selbstverständlich ist es notwendig, noch bessere, noch effizientere, noch klimafreundlichere Technologien zu entwickeln. Niemand war je dagegen.
Zweitens ist es völlig unlogisch und irrational, mit diesem Argument die Anwendung bereits bestehender Klimarettungs-Maßnahmen zu verzögern. Selbstverständlich brauchen wir beides: Jetzt sofort die beherzte und mutige Anwendung der Möglichkeiten, die wir bereits haben, und gleichzeitig die visionäre Forschung für Lösungen, die eines Tages sogar noch besser sein werden.
Drittens ignoriert Kisin, dass revolutionäre Technologien, die heute erfunden werden, nicht morgen bereits verfügbar sind. Um auf hypothetische Wundertechnologien zu hoffen, die heute noch nicht absehbar sind, fehlt uns einfach die Zeit.
Mit rhetorischen Tricks zum Nichtstun gegen das Klima indoktriniert
Und viertens ist bei näherer Betrachtung schon die darunterliegende Grundannahme falsch: Es gibt keine Abwägung zwischen Klimaschutz und wirtschaftlichem Wohlstand. Wir bekommen entweder beides oder keines von beiden. Es gibt keine massivere Bedrohung unseres wirtschaftlichen Wohlstands als eine Klimakatastrophe. Einer Studie zu Folge verursacht jede Tonne CO2 einen Schaden von bis zu 120€ – und könnte bis 2100 bis zu 14% der globalen Wirtschaftsleistung vernichten. Und auf der anderen Seite ergeben sich durch klimabewusstes Umdenken gewaltige wirtschaftliche Chancen, die Kisin völlig ignoriert.
Grundsätzlich gibt es zwei Zukunftsszenarien: Entweder der Klimawandel galoppiert uns davon und führt zu einer globalen Katastrophe. Dann steht der größte ökonomische Niedergang bevor, den die Menschheit je erlebt hat. Ob wir dann vorher noch ein paar Prozent mehr Geld gescheffelt haben oder nicht, ist relativ egal. Oder wir kriegen das alles noch einigermaßen hin. Das würde bedeuten, dass sich klimafreundliche Technologien weltweit durchgesetzt hätten. Das wiederum hieße, dass genau jene Länder am besten aus der Krise kämen, die sich frühzeitig als führende Kräfte der Innovation positioniert haben.
Das könnten wir sein. Die Chance ist nicht vorbei. Aber wenn Leute wie Kisin in sozialen Medien bejubelt werden, stehen die Chancen dafür wohl eher schlecht.
Artikelautor: Florian Aigner ist Physiker, Autor, Wissenschaftserklärer und Kolumnist. Unbezahlte Werbung: Sein Buch „Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl“ gibt es hier. Artikelbild: Screenshot