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BILD lügt: „Strombettler“, weil wir mehr Strom exportiert haben?!

von | Aug 22, 2023 | Faktencheck

Dass das Boulevard-Magazin BILD Fehler macht, ist eigentlich keine Nachricht wert. Das ist so vorhersagbar wie Kälte im Winter und Wespen im Sommer. Aber der „Strombettler“-Unsinn hier ist schon kein bloßer Fehler mehr, das ist eher ein medialer Totalausfall in der Dimension Top-3 der aller dümmsten Meldungen des gesamten Jahres 2023.

Hier ein paar Fakten: Wir haben im ersten Halbjahr 2023 MEHR STROM EXPORTIERT als importiert. Deutschland hat mehr als genug Strom produziert – und könnte noch viel mehr produzieren. BILD fantasiert in ihrer manipulativen Anti-Ampel-Kampagne, dass uns das auf magische Weise zum „Strombettler“ machen würde. Eine absurde Kampagne gegen den Markt und gegen billigen Strom. Die AfD dankt für die gratis Propaganda der BILD und schwimmt weiter im Umfrage-Hoch.

Hasst BILD billigen Strom und den Freien Markt?

In der Redaktion müssen die entweder komplett geschlafen haben oder es gibt beim Axel-Springer-Verlag nur noch Leute, deren Kenntnisse in Wirtschaft und Energiepolitik zu schlecht sind, um in der Projektwoche bei der Schulzeitung in der Mittelstufe mitmachen zu dürfen.

Wir müssen uns diesen unausgereiften Gedanken-Kompost leider trotzdem mal kurz zur Einordnung ansehen, weil er sich wie zu erwarten Verbreitung in den sozialen Medien erfreut. Und dann steht Ihr am Ende in der Kaffeeküche, wo es die größten Büro-Dullis wiederholen werden:

Am 08.08.2023 hieß es dort: „Neuer Bericht zeigt: Deutschland wird zum Strombettler“ und „Was für ein Absturz!“. Nun ist der Begriff „Strombettler“ einfach so unglaublich lächerlich, dass die adäquateste Reaktion wäre, Leute einfach hart auszulachen, die ihn ohne Ironie benutzen.

Wir betteln nicht um Strom. Wir kaufen ihn, wenn er woanders gerade billiger ist

Deutsche Kunden betteln nicht um Strom, sie kaufen ihn. Kaufen heißt: Sie tauschen ihn gegen Geld. Genau wie französische, schweizerische oder niederländische Kunden auch, und das tun sie täglich. Für Geld/Zaster/Moneten.

Die BILD findet es offenbar schlimm, dass wir im ersten Halbjahr 2023 mehr Strom importiert haben als im Jahr zuvor, so als sei Stromexport olympisch und wer am meisten exportiert, hat gewonnen:

„Lag der Netto-Stromexport in der zweiten Jahreshälfte 2022 noch bei 9,2 TWh, sind es jetzt gerade einmal 0,6 TWh. Vom Strom-Exporteur zum Strom-Bettler!“

Aua. So einen infantilen Blödsinn findet ihr nicht mal in den Leserbriefen der Blitz-Illu. Vom Strom-Exporteur immer noch zum Strom-Exporteur, aber halt weniger. Wir haben in besagtem Zeitraum ja immer noch mehr Strom verkauft als gekauft, waren aufs Halbjahr betrachtet also nach wie vor Strom-Exporteur. Das ist so ziemlich das Gegenteil von einem „Strombettler“, oder?!

Wir haben mehr Strom exportiert, wie sind wir da „StromBettler“?!

Ich helfe dem hilflosen Axel-Springer-Personal aber gerne dabei, ihr eigenes Argument ordentlich zu formulieren, denn das macht es nicht weniger harmlos: In der Moment-Betrachtung des ganzen Jahres, Stichtag 18.08.2023, sind wir aktuell tatsächlich Netto-Importeur, das gab es zuletzt im Jahr 2011. Das Jahr ist aber noch nicht zu Ende, die starken Export-Monate liegen noch vor uns, das kann sich bis zum 31.12.2023 also noch ändern. Und wird sich wohl auch, wie all die Jahre davor.

Aber gut, mal angenommen, das passiert nicht und Deutschland importiert 2023 zum ersten Mal seit vielen Jahren insgesamt mehr Strom als es exportiert, was dann? Sollten wir uns dann den Bademantel anzünden und darin vom Balkon springen? Oder warnt die Bild-Redaktion hier vollkommen übernervös und schreckschraubig vor einer normalen, zu erwartenden Marktentwicklung?

Luxemburg, UK, Italien sind auch „Strombettler“?

Wenn Import nämlich „Bettlerei“ ist, dann befänden wir uns in einer illustren Runde von astreinen Bettel-Nationen: Die SchweizÖsterreichLuxemburgItalienUKBelgien und viele andere Staaten haben im ersten Halbjahr alle mehr Strom importiert als exportiert (ist ja auch mathematisch logisch, es kann ja nicht in jedem Land Überschüsse geben).

Wer kennt es nicht, dieses kirchenmausige Bettelpack aus Luxemburg und der Schweiz, das in Kartoffelsäcken am Straßenrand sitzt und wahllos Passanten um Strom anhaut. Ham se ma ne Kilowattstunde junger Mann?

Ach nee, Moment, das sind ja die einkommenstärksten Länder Europas. Und sie betteln auch nicht um Strom, sie kaufen den. Wie wenig kann man von Marktwirtschaft verstanden haben, um in einem Handel (!) Bettelei zu sehen? Italiens Importe lagen übrigens 8 mal höher als die deutschen.

Ständig werden irgendwelche Promis von der Klatschpresse umworben, um dem Pöbel in exklusiven Home-Storys ihre Designerklamotten, „Sport“-wagen und Brillantringe zu zeigen. An die Überschrift „Hier zeigt uns Schmuck-Bettlerin Naomi Campbell ihre zusammengeschnorrte Diamant-Kollektion“ kann ich mich nicht erinnern.

Wir sind übrigens „Öl-Bettler“, „Nahrungsmittel-Bettler“ oder „URan-Bettler“

Aber hey, wenn Importe jetzt gleich Betteln sind, dann habe ich ganz schlechte Nachrichten für schwarz-rot-goldene Twitter-Profile: Dann wäre Deutschland zuallererst mal Erdölbettler und Erdgasbettler, gefolgt von Software-Bettler, Smartphone-Bettler, KlamottenbettlerNahrungsmittelbettler und Medikamentenbettler.

Hey, liebe Axel-Springer-Belegschaft, Deutschland hat allein 2022 Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,5 Billionen (!) Euro importiert. Das sind 1.500 Milliarden Euro, eine Zahl mit 11 Nullen. Davon gingen allein 140 Milliarden nur für fossile Brennstoffe drauf. Verglichen damit ist der Wert unserer Stromimporte ein Witz, aber Rechnen im Zahlenraum bis eine Billion ist vermutlich kein Springer-Einstellungskriterium.

Wir haben mehr eingekauft – weil es billiger war!

Und warum haben wir mehr importiert als im letzten Jahr? Richtig, weil es arschbillig war! Wir haben genau das Gleiche gemacht wie Monika, wenn sie in der Saturn-Filiale steht, elektrische Kaffeemühlen vergleicht und dann das Gerät wählt, das bei gleicher Qualität am preiswertesten ist. Monika wählt jetzt ein Gerät vom italienischen Hersteller De’Longhi anstatt eins von Bosch, weil es 10 Euro weniger kostet.

In Bild-Logik ist Monika jetzt eine Kaffeemühlen-Bettlerin. Wer aus UK einen neuen Aston Martin importiert, ist ein Auto-Bettler, und wer sich einen Privatjet vom US-Hersteller Gulfstream Aerospace kauft, ist ein Flugzeug-Bettler. Das ist selbst für Bild-Verhältnisse so unfassbar hirnlos.

BILD will, dass wir teureren Strom haben?

In der Logik von Menschen mit funktionierender Großhirnrinde hat Monika hingegen einfach einen guten Deal gemacht. Und genau das machen wir beim Strom aktuell auch: Deutscher Strom liegt preislich so im Mittelfeld, der dänische, schwedische, norwegische und niederländische Strom ist besonders dieses Jahr meist billiger.

Was machen schlaue Monikas also? Genau, sie kaufen den billigen Strom anstatt mehr deutsche Kohlekraftwerke hochzufahren (was natürlich auch ginge). Sie spart Geld und kann sich von der Ersparnis was anderes kaufen, erhöht also ihr Vermögen (solange wir die Kaffeemühle noch funktioniert und zu ihrem Vermögen gezählt werden kann).

Sowohl Monika als auch die Firma De’Longhi haben am Ende was davon, man spricht in der VWL auch davon, dass Handel die Wohlfahrt beider Seiten steigert. Deswegen gibt es Handel in so ziemlich jeder Kultur in jedem Land der Welt, unabhängig von der Staats- und Wirtschaftsform.

Für die Kampagne lässt man bei Union und FDP jede Kompetenz fallen

Das mag eine Binsenweisheit sein, aber im Jahr 2023 scheinen das selbst Leute zu vergessen, die sonst sehr gerne mit dem Markt argumentieren: Martin Huber, Generalsekretär und CSU und Torsten Herbst, der parlamentarische Geschaftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, teilen diesen esoterischen Unsinn aus dem Springer-Haus tatsächlich noch auf Twitter.

Wie wenig Ahnung kann jemand von Marktwirtschaft und Energiepolitik haben, um dieses dilettantische Produkt aus Inkompetenz zu verbreiten? Huber schreibt sogar noch dazu, Deutschland sei wegen der Ampel-Politik zum Bittsteller geworden, hat den ausgemachten Unfug also offenbar gelesen und weiß, was er da retweetet. Herbst von der FDP hingegen will mit dem Textchen der BILD belegt sehen, dass Import böse ist und Atomkraft ihn verhindert.

Beide Behauptungen lassen sich mit einem Blick in die Vergangenheit widerlegen: Im Jahr 1995, also in Jahr 13 der Helmut-Kohl-Regierung, hatten wir den Atomstrom von 19 Kernreaktoren im Strommix (170 Terawattstunden) und dennoch war Deutschland Nettoimporteur – oh, Pardon, ich meine natürlich „Strombettler“ und „Bittsteller“ in CSU-Logik.

Übrigens eine eigene kurze Analyse, wer es ist, der diese BILD-Lügen mal wieder retweetet, zeigt eine überwältigende Mehrheit an AfD-nahen Accounts und Klimawandelleugnern. BILD, denkt, mit dreisten Lügen und Propaganda gegen die Regierung würde sie die Union und die FDP stärken, aber sie stärkt die Rechtsextremisten. Also, wir hoffen zumindest, dass es nicht Absicht ist.

Als wir 1995 19 AKW hatten, waren wir wirklich Nettoimporteur

Das war übrigens damals wie heute vollkommen unproblematisch, der Import machte 1995 etwa 0,9 Prozent des Bedarfs aus und liegt für 2023 aktuell (Stichtag 18.08.2023) bei 1,4 Prozent des Bedarfs. Die Bild schürt hier also Angst und Wut auf Basis unseres Handels, der nicht nur vollkommen ungefährlich ist, sondern tatsächlich unsere Kosten senkt.

Die Bild gehört zum Springer-Konzern. Ein Unternehmen, das zu 48 % Private-Equity-Firmen mit massiven Investitionen in der Fossilwirtschaft gehört. Kann also gut sein, dass diese Berichterstattung nicht wirklich dumm, sondern bewusst gefährlich und spalterisch ist. Nochmal: Deutschland hat im ersten Halbjahr mehr Strom exportiert als importiert, wenn auch weniger als im letzten Jahr – weil es zeitweise im Ausland billiger war. Deshalb war unser Strom billiger. Er war übrigens auch so grün wie nie. Deutschland wird höchstwahrscheinlich wie alle Jahre zuvor auch Nettoexporteur bleiben. BILD-Schreiber und ihren willfährigen Multiplikatoren ist jedes Mittel Recht, um Propaganda zu machen – und dafür profitiert vor allem die AfD.

Die Lügen-Kampagne der BILD geht ja schon eine Weile, hier die letzten Fakes des Desinformation-Magazins:

Dieser Text erschien zuerst bei Graslutscher. Artikelbild: Screenshot bild.de/canva.com