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#HaltdieFresseBild: Die ganze Geschichte hinter dem Hashtag – und die rechte Gegenkampagne

von | Okt 23, 2020 | Aktuelles, Kommentar, Social Media

#HaltdieFresseBild: Die ganze Geschichte hinter dem Hashtag

Wenn man nach Tagen ganz unbedarft Twitter öffnet und in die Trends schaut, dann wundert man sich: #HaltdieFresseBild steht da weit oben. Dazu die Diskussion: Darf man „Halt die Fresse“ sagen oder ist das unanständig, unsachlich und respektlos? Die Zeitung die „Welt“ titelte in einer Kolumne sogar: „Der linke Mob ist auch nicht besser“. Lesedauer 4 Minuten. Was ist passiert?

Ich möchte mal den Weg skizzieren, wie es zu dem Hashtag kam.

In der Süddeutschen Zeitung erschien am 16.10.2020 der Text „Igor Levit ist müde“ von Helmut Mauró (Quelle), der mit dem Pianisten und auch Aktivisten Igor Levit abrechnete. Dem Juden Levit, der sich seit Jahren lautstark gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus einsetzt, wird dort eine „Opferanspruchsideologie“ untergeschoben, und es wurde in Frage gestellt, ob sein Aktivismus auf Twitter mutig sei oder zur Bekämpfung des Faschismus beitrage.

Meine Antwort auf diese Fragen lautet: Eindeutig ja. Und das nicht nur, weil Levit konkret bedroht wurde, sondern, weil wir mittlerweile schon so viel über die Dynamiken des Rechtsextremismus und der fehlenden Widerrede wissen! Das im Jahr 2020, nach Trump, Terror und rechten Netzwerken noch in Frage zu stellen, ist herrlich weltfremd. Widerrede ist leider immer noch mutig und es trägt zur Bekämpfung des Faschismus bei. Es braucht mehr Menschen wie Igor Levit!

Viel Widerspruch am SZ-Text

Damit stehe ich nicht allein da. In der Folge gab es eine Menge an Widerspruch, zum Beispiel in der WELT („Die Generalabrechnung mit Igor Levit ist schlichtweg nicht fair“) oder beim BR-Klassik („SO UNTERIRDISCH KANN „MUSIKKRITIK“ SEIN“), was schließlich dazu führte, dass die Chefredaktion der SZ Igor Levit für den in Teilen antisemitischen Text um Entschuldigung bat (Link). Diese durchaus angebrachte Entschuldigung empfand Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt als „Einknicken vor einem shitstorm“ [sic] und ein „fatales Signal in den Journalismus“.

https://twitter.com/ulfposh/status/1318637893754245126

Man ist über eine derart seltsame Reaktion durchaus verwundert. Die meiner Meinung nach beste Reaktion auf Poschardts Tweet kommt von der Journalistin Nicole Diekmann: „Eine Entschuldigung ist kein Beleg für Angst vor Leser:innen. Die Angst vor Entschuldigungen ist der Beleg für Angst vor Leser:innen.“

Aber selbst die Süddeutsche Zeitung legt noch einmal eine wahnsinnig gute Widerrede von Carolin Emcke nach, die sämtliche Kritik an dem Mauró-Text auf den Punkt bringt:

„Da schreibt ein jüdischer Deutscher von seiner Erschöpfung, als Jude wieder und wieder antisemitischer Verachtung und Gewalt ausgesetzt zu sein, immer wieder reagieren zu müssen auf die Nachrichten von antisemitischen Übergriffen – und diese Sätze dienen in der SZ als diffamierende Schlusspointe eines Textes, der Levit als Musiker, als politischen Bürger und als Menschen polemisch in Stücke reißt. Ist es wirklich möglich, dass Juden in deutschen Zeitungen dafür verspottet werden, wenn sie ihre Angst, ihre Verzagtheit, ihre Wut ausdrücken? Dass ihnen nahegelegt wird, sich in anderen Worten zu beklagen, höflicher, weniger echauffiert, oder noch besser: sie würden sich still verhalten und auf anderes konzentrieren?“ (Quelle).

Darüber, wie und ob sich die Opfer gegen den Hass gegen sie wehren dürfen, geht auch der rechte Pseudo-Skandal, der sich in der Debatte weiterentwickelte.

Was aber hat denn all das mit #HaltdieFresseBild zu tun?

Der Bild-Journalist Ralf Schuler retweetete den Mauró-Text und zitierte aus dem Text: „Bei Maybrit Illner wiederholte er (Anm. Levit) nach der berechtigten Kritik des Bild-Journalisten Ralf Schuler seine zuvor getwitterte Überzeugung, AfD-Mitglieder seien „Menschen, die ihr Menschsein verwirkt“ hätten“.

Auch AfD-Frau Alice Weidel nahm das Levit-Zitat zum Anlass, ihm in einem offenen Brief an Bundespräsident Steinmeier die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes streitig zu machen:

„Damit spricht Igor Levit einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe kollektiv die Menschenwürde ab. Das ist ein klarer Bruch mit Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen für „unantastbar“ erklärt. Durch Ihre Ordensverleihung an Herrn Levit erwecken Sie den Eindruck, diese Geisteshaltung, die Herr Levit mehrfach bekräftigt hat, genieße den offiziellen Segen des deutschen Staates und seines höchsten Repräsentanten.“

In dem Punkt, dass keinem Menschen auf der Welt, das Menschsein abgesprochen werden darf, gebe ich Weidel Recht. Dass sie selbst und die gesamte AfD sich nie selbst an diesen Grundsatz hält, spielt hierbei keine Rolle.

Levit erklärte, „er habe das Wort „Menschsein“ im Sinne des jiddischen Wortes „Mensch“ gebraucht, welches in der Tat einen „ehrenhaften, umsichtigen Menschen“ meint.“ (Quelle) Dennoch wurde angestachelt durch den BILD-Schreiber eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben: Anstatt dass wir über rechten und antisemitischen Hass reden, geht es um Tonfallkritik am Opfer, die davon ablenken soll. Und dankbar von Rassist:innen und Rechtsextremist:innen aufgegriffen wird.

#HaltdieFresseBild

Die Autorin Jasmina Kuhnke schmetterte jedenfalls Schuler ein „Halt die Fresse“ unter seinen Tweet.

In der Folge entwickelte sich ein Schlagabtausch auf Twitter, in dem sich vor allem die Bild-Schreiber Schuler und Cremer (beide männlich) an Jasmina Kuhnke abarbeiteten.

Es war das gleiche Re-Framing wie die ganze Zeit schon: Tonfallkritik, die vom eigentlichen Sachverhalt ablenken sollte, mitsamt rechter Täter-Opfer-Umkehr. Weiße Männer schreiben einer schwarzen Frau vor, wie sie sich gegen ihre Framingversuche zu wehren habe. In der Folge schossen sie sich gänzlich auf Jasmina Kuhnke ein, mitsamt der typischen Dekontextualisierungen und verzerrten Darstellungen ihrer Tweets, um sie zu diffamieren und diskreditieren.

Nach und nach sprangen den beiden Bild-Herren Journalistinnen eher sehr konservativer Medien bei und beklagten fehlenden Anstand. Hier wird versucht, ein Bild der „heuchlerischen Linken“ zu zeichnen. Und alles lenkt von der eigentlichem Debatte ab. Wir kommen gleich noch dazu.

Vor allem die Publizistin und Journalistin Anna Dobler bemängelte fehlenden Anstand in der Debatte, vergaß dann aber von Zeit zu Zeit den eigenen. Und sie schreibt später die oben genannte Kolumne „Der linke Mob ist auch nicht besser“.

Aber auch:

Hinweis: Dieser Tweet wurde inzwischen gelöscht

Und sie verspottet auch die Rassismuserfahrungen Kuhnkes. Während man sich gleichzeitig über fehlenden Anstand beklagt. Gelten Heuchelei-Vorwürfe nur in eine Richtung?

Ich könnte jetzt noch einige Screenshots dieses Schlagabtausches vorstellen, aber ich möchte eher auf den Kern der Diskussion hinweisen: #HaltdieFresseBild.

„Der linke Mob“ – und es ist ein false flag account

Frau Dobler beklagt sich also, dass „der linke Mob“ nicht besser sei. Das ist übrigens der Kern dieser Framing-Kampagne: Eine Relativierung des rechten Hasses durch diese Tonfallkritik. Man gesteht damit übrigens auch ein, gar nicht den Anspruch zu haben, sich selbst an jenen Anstand zu halten, den man beim Gegenüber beklagt. Zunächst muss ich festhalten, dass sie nicht so gerne in eine anständige und respektvolle Debatte einsteigen möchte, wie sie es behauptet: Ich bin bei ihr geblockt.

Wenn ich Accounts wie @Die_Insider oder @robertwagner198 durchscrolle, dann weiß ich, wie ein echter Mob aussieht. Facebook-Gruppen mit tausenden Mitgliedern verbreiten weitgehend unter dem Radar und ab von der Öffentlichkeit Gewaltphantasien, rechtsextremes und antisemitisches Gedankengut. Aber dort bleibt es nicht: Es schwappt in die Facebook-Kommentarspalten, und vor allem die BILD-Kommentare sind ohne jeglichen moderierenden Eingriff nur schwer erträglich. Das dokumentiert der Volksverpetzer auch fast täglich (mehr dazu).

Es werden Stereotype, Rassismen und andere Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit geschürt, verbreitet und in die Gesellschaft getragen, die dann Betroffene wie z.B. Jasmina Kuhnke in ihrer gelebten offline Realität ausbaden dürfen. Dabei gibt es Studien, die dringend zu einer Moderation raten, um eine respektvolle Anschlussdiskussion zu fördern (Quelle).

Die Kollegen vom BildBlog arbeiten zudem seit Jahren die Methoden der Boulevard-Zeitung heraus und zeigen, welche Mittel ihnen recht sind. Wie die Schreiber dieses Blattes manipulieren und lügen, um ihr Framing durchzusetzen und Debatten zu beeinflussen ist längst bekannt (mehr dazu).

Aus dieser Wut heraus, die die BILD ständig provoziert und schürt, entstand: #HaltDieFresseBild.

Nun kritisieren Dobler und die anderen die Wortwahl. Das ist auch völlig in Ordnung. Manche finden es zu heftig, andere nicht. Auf der anderen Seite ist es aber durchaus möglich, sachlich und respektvoll zu klingen, aber dabei rassistisch zu sein. Die Wortwahl ist dann schöner. Aber eben rassistisch. Ein Whataboutismus über die Wortwahl soll damit nur von dem nüchternen Rassismus ablenken.

Anna Dobler (und auch die anderen) beklagen zu Recht Bedrohungen. Nicht nur Jasmina Kuhnke selbst, auch wir vom Volksverpetzer betonen das immer wieder: Jede Drohung und jede Beleidigung ist eine zu viel. Problematisch wird es allerdings, False Flag Accounts auch dann als Beleg für einen „linken Mob“ heranzuziehen. Erst Recht, wenn man bereits darauf lautstark und mehrfach hingewiesen wurde.

(Im Übrigen empfiehlt sich ein Blick in die Kommentare unter Doblers Tweet: Man könnte fast von einem rassistischen Mob sprechen.)

Perspektiven zu wechseln bringt Erkenntnisgewinn.

Ich bin ein weißer Junge. Habe nie Rassismus erlebt, mich hat die Polizei noch nie ohne Grund angehalten. Ich würde mir nicht anmaßen, die Wut derer zu kritisieren, die betroffen sind und ihre gemachten Erfahrungen bewerten. Und sind wir mal ehrlich: Die BILD hat eine unglaubliche Macht. Die sie immer wieder missbraucht.

Wie könnte sich eine Schwarze Twitter-Userin denn bitte leise dagegen wehren? Weiße Journalist:innen definieren, was, wie und wann rassistisch ist und wollen der „wütenden Schwarzen Frau“, für die Jasmina Kuhnke hier stellvertretend steht, klar machen, wer die Deutungshoheit darüber hat, wie über Rassismus (ihren eigenen!) zu reden ist. Die Degradierung zur „lauten Aktivistin“ führt soweit, dass es von Dobler, Poschardt und Co. retweetete Threads gibt, die es Jasmina Kuhnke sogar absprechen, eine gute Mutter zu sein! Und das soll jetzt anständig sein? Das ist reines Lagerdenken, Whataboutismen und Täter-Opfer-Umkehr.

Das rechte Re-Framing und Täter-Opfer-Umkehr

Die (etwas weinerliche) Kritik an #HaltDieFresseBild ist schlicht eine Täter-Opfer-Umkehr. Es ist eine Kampagne, die von BILD und Rechtskonservativen Hand und Hand organisiert wird und ausschließlich eine fast belanglose Tonfall-Kritik, die vom eigentlichen Mob, vom Rassismus und Antisemitismus ablenken soll. Es ist ein Taschenspielertrick. Denn das Narrativ soll Kuhnke oder Levit zu Tätern für den Mob von Rechts stilisieren, während beide derzeit wieder massiv (Mord)Drohungen ausgesetzt sind.

Rassisten drohen Autorin Jasmina Kuhnke mit Veröffentlichung ihrer Adresse

Ausgangspunkt war ein Angriff auf die Opfer von Hetze und raus kam ein weiterer Angriff auf die Opfer von Hetze. Man will denjenigen, die tagtäglich dem Hass ausgesetzt sind, es verbieten, ihre unendliche Wut einmal zum Ausdruck zu bringen. Während man es sich selbst jedoch oft genug herausnimmt. Es ist ein Hohn, wie hier Personen, die sich gegen den rechten Mob wehren, am Ende als Täter:innen da stehen sollen – und gleichzeitig noch mehr unter Beschuss eben jenes rechten Mobs geraten. Somit wird der rechte Hass gleichzeitig legitimiert und relativiert. Und deswegen stand am Ende der Hashtag #HaltdieFresseBild.

Zum Thema:

Pseudo-„PanoramaGate“: Lügen, Ablenkungen & rechtsextreme Gewaltdrohungen

Korrekturhinweis: Ergänzung in der Beschreibung, dass ein gescreenshotteter Tweet zwischenzeitlich gelöscht wurde. Den Satz, verschiedene Personen hätten einen „Tweet gefeiert“, in welchem Kuhnke abgesprochen wurde, eine gute Mutter zu sein, haben wir korrigiert in „Thread“ „retweetet“. Artikelbild: Jasmina Kuhnke


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