Von Matthias Meisner
Die NachDenkSeiten mögen zwar zuletzt mehr und mehr abgedriftet sein, Stichworte Corona-Verharmlosung und Putin-Versteherei (mehr dazu). Aber eines war für das traditionsreiche Portal in der Landschaft der sogenannten „alternativen Medien“ immer Doktrin: klare Kante gegen Rechts. Wohlgemerkt: war. Denn der 2003 vom ehemaligen SPD-Politiker Albrecht Müller als Antwort auf Gerhard Schröders Agenda-Politik gegründete Blog lässt neuerdings auch deutlich Sympathien für die extreme Rechte durchblicken, nicht nur für die AfD. Wie konnte es dazu kommen?
April 2022: Applaus für AfD-Rede
Einen Vorgeschmack gab Ende April NachDenkSeiten-Chefredakteur Jens Berger in einem Text über eine Bundestagsdebatte zu Waffenlieferungen an die Ukraine, überschrieben: „Diese Rede hätten wir gerne vom Bundeskanzler gehört – doch sie kam von Alexander Gauland“. Berger beschrieb die Wortmeldung des früheren Partei- und Fraktionschefs der AfD als „Höhepunkt der Debatte“, als „Punktlandung“. Und bedauerte: „Offenbar verbietet die politische Disziplin heute, einem AfD-Politiker zuzuklatschen.“
Damals gab es eine ganze Reihe wohlmeinender Leserpost für Berger. Gaulands Debattenbeitrag sei „wertvoll“, hieß es, und: „Chapeau, was er da gesagt hat. Genau das trifft es.“ Wenn es um Frieden gehe, müsse man Scheuklappen ablegen, hieß es in einem anderen Leserbrief. Und das Ehepaar Helene und Ansgar Klein aus Würselen ermunterte den Chefredakteur der NachDenkSeiten:
„Die Verhärtung in Lagern und Narrativen, wie wir sie heute in der BRD in noch nie dagewesener Form erleben, muss durchbrochen werden.“ Ansgar Klein ist ein in der Region Aachen bekannter Verschwörungstheoretiker. Im April 2020 hatte er eine Kundgebung vor Corona-Rebellen angemeldet, auf der zum Unmut der damaligen Parteiführung der LINKE-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko auftrat (Quelle). Aber das nur nebenbei.
Nicht das einzige AfD-Lob
Das Lob der NachDenkSeiten für Gauland war kein einmaliger Ausrutscher. Nach der Niedersachsen-Wahl im Oktober (mehr dazu) zollte Berger der AfD Respekt für ihre Haltung zu Ukraine-Krieg und Russland-Sanktionen. Die AfD sei die einzige Partei, die in dieser „existentiellen Frage“ eine „progressive friedenspolitische Antwort liefert“, schrieb er.
Obwohl bekanntermaßen jede Wählerin und jeder Wähler mit der AfD sehr bewusst für Rechtsradikale votiert und Konsens bestehen müsste, den Nimbus der Protestpartei nicht durchgehen zu lassen, appellierte Berger, man dürfe „den Wählern nicht ihre demokratische Gesinnung absprechen“. Berger fügte hinzu, Gejammer über den angeblich nicht demokratischen AfD-Erfolg sei „wohlfeil“. Rassismus und reaktionäre Wertvorstellungen der AfD seien zwar schlimm, schränkte der Autor ein. Aber, so fragte Berger mit Blick auf die Grünen gleich im nächsten Satz: „Ist eine Politik, die auf einen nuklearen Holocaust in Europa zusteuert, nicht sogar noch schlimmer?“
Kein problem mit verharmlosung von Rechtsextremen
Dass die NachDenkSeiten Rechtsradikalismus verharmlosen, wenn es um ihre Agenda geht, zeigte sich zuletzt auch in einer Artikelserie zu den Protesten gegen die Energiepolitik im sächsischen Plauen. Autor der Texte über die „Wut des Ostens“ und die „mutigen“ und „zänkischen Vogtländer“ ist der in der Region beheimate Journalist Frank Blenz, der mit den lokalen Gegebenheiten bestens vertraut sein müsste – und der dennoch auf dem rechten Auge blind zu sein scheint. Blenz feierte, dass am letzten September-Wochenende bei einer der bisher größten Protestdemonstrationen im „heißen Herbst“ in Plauen ein Transparent durch die ganze Stadt getragen worden sei: „Für diese Scheiße sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen.“
Was die NachDenkSeiten in den Beiträgen zu der Stadt im Vogtland völlig unterschlagen: die Rolle der extrem rechten Szene bei den Protesten, etwa die Beteiligung der rechtsextremen Kleinpartei „Freie Sachsen“ an den Aufmärschen.
Und auch die Verbindungen der Veranstalter ins Reichsbürger-Milieu. Zwar erwähnt Blenz, dass die Kundgebungen von einem „Forum für Demokratie und Freiheit“ organisiert worden sind. Er führt sogar ein langes, gefälliges Interview mit der Organisatorin und Rednerin Moreen Thümmler, in dem diese Vielfalt behaupten darf: „Die über Jahrzehnte aufgebauten Mauern sind noch in vielen Köpfen vorhanden, Ost-West, Links-Rechts. Wir sind vor allem eins: Menschen! Eine Gemeinschaft!“
Lob für Gruppe, die sturz der regierung und “Nürnberg 2.0” fordert?
Im 21-Punkte-Programm des „Forums für Demokratie und Freiheit“ stehen Forderungen wie das Ende der Russland-Sanktionen, aber auch „Beendigung aller illegaler Abgaben des Volkes“ oder „Einfordern der Auflösung des Deutschen Bundestag sowie der Bundesregierung“. In sich hat es auch Punkt 14: „Die feste Integration des Nürnberger Codecs in das nationale und europäische Recht“. Soll mit dem Hinweis auf den nach dem Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 installierten Kodex ein Vergleich gezogen werden von Corona-Impfungen mit den Menschenversuchen der Nazis?
Nach den Worten des Plauener Oberbürgermeisters Steffen Zenner (CDU) steht das „Forum für Demokratie und Freiheit“ nicht „auf dem Boden unseres demokratischen Grundverständnisses“. David Thiele, Haupt-Organisator der Kundgebungen, liefert dafür regelmäßig Belege. Er sagte im Oktober: „Ich finde Parteien generell beschissen und zum Kotzen, weil sie geistiger Müll sind.“ Im September erklärte er in einem Mobilisierungsvideo, der Bundestag bestehe „zu mehr als 90 Prozent nur aus hochverräterischen Volksverrätern“.
„extreme, reichsbürgerhafte Tendenzen”
Die freie Journalistin Doreen Reinhard, Autorin der Wochenzeitung „Die Zeit“, twitterte, das Forum „sollte in seiner Radikalität bitte nicht unterschätzt werden“. Sie spricht von „extremen, reichsbürgerhaften Tendenzen“. RBB-Reporter Olaf Sundermeyer berichtete, die Kleinpartei habe sich vorgenommen, Plauen als Hotspot auszubauen. „Die Protestwelle im heißen Herbst geht über die Provinz, nicht über Berlin“, zitierte Sundermeyer den Neonazi-Kader Michael Brück. „Die wiederkehrenden Demos im Regierungsviertel bringen doch wenig.“ Auch Christian Herold vom Kulturbüro Sachsen spricht mit Blick auf das Forum von „klarer Reichsbürger-Rhetorik“, wie die Zeitung „ND“, das frühere „Neue Deutschland“ berichtete (Quelle).
Der Kurswechsel der NachDenkSeiten im Verhältnis zur extremen Rechten ist bemerkenswert, und er beschädigt weiter das einstige Renommee des Portals, das in der Gründungsphase mal ein spannendes Beispiel für Gegenöffentlichkeit abgab. In einer Fallstudie für das Projekt „Gegenmedien als Radikalisierungsmaschine“* des Zentrums Liberale Moderne hatte sich der Trierer Politikprofessor Markus Linden im Frühjahr ausführlich mit den NachDenkSeiten befasst (Quelle). In der Studie hieß es, die NachDenkSeiten würden „politisch klassisch links verortbar bleiben“ (mehr dazu) und sich „schon lange explizit“ von der rechtsradikalen AfD distanzieren.
“Rechtspopulismus wird von den Nachdenkseiten eher unter der Hand gestützt”
Linden schrieb allerdings auch: „Die AfD wird als Partei explizit abgelehnt, aber ihre Argumente und Scharnierprotagonist:innen erhalten eine Öffentlichkeit, die nicht einordnet, sondern die radikale Widerstandsrhetorik en passant mitnimmt.“ In einem Interview von Wolfgang Storz für den Blog Bruchstücke ergänzte Linden im Mai: „Der Rechtspopulismus wird von den NachDenkSeiten eher unter der Hand gestützt, und zwar in Form von Verlinkungen oder instrumentellem Lob“ (Quelle).
In einer Analyse zum Bundestagswahlprogramm 2021 hatten die NachDenkSeiten noch Kreide gefressen: „So seriös die AfD tut, so klar kommt an einigen Stellen des Wahlprogramms auch ihr rechtsextremer Charakter heraus.“ Im März 2020 warnte das Portal davor, „auf die AfD hereinzufallen“ oder sich „aus Ärger über das Fehlen einer guten Alternative“ ein „geschöntes Bild der AfD“ zu malen. Damals hieß es: „Dem letzten Wähler der AfD muss klargemacht werden, dass er keine Protestpartei wählt, sondern die Wegbereiter des Nazismus.“ Diese reine Lehre des Portals ist Geschichte.
Matthias Meisner ist freier Journalist. *Er gehört zum Rechercheteam des Projekts „Gegenmedien als Radikalisierungsmaschine“ der Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne. Das Projekt wird im Rahmen von „Demokratie leben!“ vom Bundesfamilienministerium sowie von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziell gefördert. Artikelbild: Sebastian Willnow/dpa