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Fake-Alarm: Angeblicher „Leak“ aus dem BMI ist nur heiße Luft

von | Mai 11, 2020 | Aktuelles, Analyse

BMI-Mitarbeiter missbraucht offiziellen Briefkopf für Fake News

Aus der Geschichte, dass ein Mitarbeiter des BMI, der nicht zum Corona-Krisenstab gehört, privat wirre und nachweislich falsche Thesen auf eigene Faust verfasst hat und missbräuchlich den offiziellen Briefkopf des BMI genutzt hat, wurde in rechten und verschwörungsideologischen Kreisen schnell ein angeblicher „Leak“ und eine „brisante Analyse“ eines Whistleblowers. So veröffentlichte die rechtskonservative Seite „Tichys Einblick“ das privat verfasste Papier so, als hätte es irgendeine Relevanz oder Glaubwürdigkeit.

Wie uns die Pressestelle des BMI bestätigte, war der Verfasser weder im Krisenstab involviert, noch in irgendeiner Form autorisiert oder beauftragt worden, das Papier zu verfassen oder zu veröffentlichen. Dieser nutzte den Briefkopf des BMI ebenfalls missbräuchlich, um seine privaten Thesen über einen großen Verteiler an alle Ministerien und politische Entscheidungsträger zu verbreiten.

„Fehlalarm“ und Fake-„Fake-news“

Begründet hat er seine Veröffentlichung mit „Gefahr im Verzug“ und einer Nichtreaktion der zuständigen Vorgesetzten der Ministerien, die den gemeinsamen Krisenstab leiten, namentlich das BMI („Bundesinnenministerium) unter Horst Seehofer und das „Bundesgesundheitsministerium“ (BMG) unter Jens Spahn.

„Alle Möglichkeiten vorgelagerter Intervention wurden vom Absender ausgeschöpft“ lautet die Aussage, die weiterverbreitet wird. Er könne für seine Arbeit nicht mehr die Verantwortung tragen als „Teammitglied des Krisenteams“. Kommen wir zu den Thesen des Briefes – und wir sehen gleich, warum sie auch inhaltlich nicht ernst zu nehmen sind.

1. „Gefahr im Verzug!“

In einem ersten Punkt bezeichnet der Autor die Schutzmaßnahmen völlig ohne Beweise als viel größere Todesursache als das Virus selbst. Belege oder Erklärungen? Rein gar keine, er springt gleich dazu über, dem Krisenstab des BMI die Verantwortung für die imaginierten „Toten“ zu geben.

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Kommen wir zum nächsten Punkt:

2. Defizite und Fehlleistungen des Krisenmanagements führten angeblich zu Desinformation/Fake News

Ja, in der Kommunikation gibt es Fehler, hier hätte einiges viel besser laufen können. Auch wir kritisierten dies bereits Mitte April. Zu einer Folgerung von glatten „Fake News“ kurzuschließen ist jedoch unseriös, denn das muss man differenziert betrachten.

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Dem Krisenstab jedoch aus heutiger Sicht zu unterstellen, nur ein Reinwaschen der Regierung oder der Wirtschaftspolitik im Sinn zu haben, ist sicherlich nicht nur verkürzt, sondern einfach schlichtweg falsch. Die bekannten Maßnahmenpakete, die zwar manchmal wohl ungleich weh tun – sei es dem Menschen direkt oder der Wirtschaft, an der ja auch viele menschliche Schicksale hängen, treffen hier die gesamte Gesellschaft.

Die Hauptkritikpunkte des Briefautors sind:

1. Methodisches Versagen des Krisenstabs und dementsprechend falsche Lagebilder und Entscheidungen der Politik.

Die interne Methodik des Krisenstabs können wir als alle Außenstehende einfach nicht beurteilen. Der Krisenstab des BMI verlässt sich jedoch auf die Expert*innen der angeschlossenen Experten wie dem RKI, dem Paul-Ehrlich-Institut und anderen wie den Leopoldina. Es gibt also definitiv eine seriöse wissenschaftlich etablierte Basis. Ganz im Gegensatz zum Autor des Papiers.

2. Keine Übersterblichkeit, da angeblich keine Evidenz für Gefährlichkeit (implizierter Influenzavergleich)

Hier war spätestens Ende März klar, dass der Influenzavergleich nicht nur hinkt, sondern auch die Übersterblichkeit leider absolut gegeben ist. Der Autor des Papiers verbreitet hier offensichtlich von der Wissenschaft längst widerlegte Falschbehauptungen.

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Wie tödlich das Coronavirus genau ist, wird sich erst noch herausstellen. Alle Studien zeigen jedoch, dass es selbst im besten Fall immer noch weitaus tödlicher ist als die saisonale Grippe, wie wir hier dargelegt haben.

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Ende April zeigten uns England und New York als Negativbeispiele noch einmal ganz besonders die Gefahr, die vielerorts immer noch unterschätzt oder klein geredet wird.

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Die nächsten: Heiße Luft

Die anderen Punkte des Verfassers schlagen in die gleiche Kerbe einer Fehlabwägung zwischen Menschenleben und Wirtschaftsinteressen, die wir oben im Text bereits behandelt haben.

Nach einem vermeintlichem „Pandemie-Fehlalarm“ habe es keine Rücknahme dessen gegeben. Obwohl das große Sterben ausblieb, weil man Maßnahmen ergriff. Und obwohl Maßnahmen doch derzeit flächendeckend zurückgenommen werden. Die Kollateralschäden sollen angeblich höher sein als ihr Nutzen behauptet er ins Blaue hinein, dass das wissenschaftlich in Zweifel zu ziehen ist, haben wir hier bereits erläutert:

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Desweiteren behauptet er, der Kollateralschaden sei bereits „unermesslich“, was wohl alles über dessen Seriosität aussagen sollte. Auch behauptet er, die Versorgungssicherheit sei gefährdet, eine „wirkliche“ Pandemie würde uns hart treffen. Auch hier fehlen jegliche Beweise und es widerspricht allen offiziellen Berichten. Und wer noch in der Realität lebt, weiß ja, dass wir derzeit eine „wirkliche Pandemie“ erleben, was wohl der beste Gegenbeweis sein dürfte. Er fordert deshalb, die Schutzmaßnahmen schnellstmöglich zu stoppen. Noch einmal: Maßnahmen werden doch bereits massiv zurückgeschraubt. Man fragt sich, in was für einer Welt der Autor lebt.

Heiße Luft, ohne Belege oder Fakten – also gut genug für Verschwörungsideologen

Die zentrale Botschaft der Analyse des Verfassers lautet: „Die beobachtbaren Wirkungen und Auswirkungen von COVID-19 lassen keine ausreichende Evidenz dafür erkennen, dass es sich – bezogen auf die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft – um mehr als um einen Fehlalarm handelt.“ Verschwörungsideologen und Rechtsextreme springen begeistert auf diese private Meinung eines BMI-Mitarbeiters an, der nicht einmal zum Corona-Krisenstab gehören soll und für seine ganzen realitätsfernen Thesen nicht einmal Belege liefert.

Natürlich ist es IMMER ein Konflikt, ein Abwägen zwischen direkten Corona Opfern (erkrankte Menschen) und indirekten Coronaopfern (Wirtschaft/Gesellschaft/Schicksale). Dennoch lässt sich hier ein „Fehlalarm“ leider nicht erkennen, wenn wir uns Opferzahlen und Schicksale anschauen. Diese „private Meinungsäußerung“ wie sie Innenminister Seehofer verärgert bezeichnete widerspricht auch allen Erkenntnissen und Positionen des BMI. Auch dass er es als vermeintlich offizielles oder internes Dokument ausgegeben hat, sei „inakzeptabel“. Inzwischen wurde er vorläufig von seinen Dienstpflichten entbunden und sein E-Mail-Postfach wurde gesperrt (Quelle).

Der Schaden ist bedauerlicherweise schon angerichtet. Verschwörungsideologen, die kein Problem damit sehen, Dinge so zu verzerren, dass sie in ihre Agenda passen, verbreiten diesen Mythos bereits tausendfach weiter als vermeintlichen „Leak“ aus dem BMI. Dass es weder ein Leak war, noch von einem Mitarbeiter, der in der Thematik involviert war, noch irgendeine faktische Grundlage besitzt, spielt dort leider keine Rolle mehr. Es dient nur noch dazu, Klicks und Aufmerksamkeit für die realitätsferne Verschwörungs-Filterblase zu generieren.

Mehr dazu:

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Text: Marcello Orlik, Thomas Laschyk. Artikelbild: nitpicker