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Was ist „Kulturkampf“ und warum ist er so gefährlich?

von | Jul 11, 2023 | Analyse

„Kulturkampf“ ist derzeit in aller Munde. Und das nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. CDU-Politiker Voigt spricht von den Grünen als „Heizungs-Stasi“, Friedrich Merz warnt vor der „Cancel Culture“ als „größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“, Markus Söder unkt gegen „Wokeness“ und behauptet, die Grünen wollten „die Deutschen umerziehen“, Carsten Linnemann und Christoph Ploß warnen in der „WELT“ vor „Wokeness“ als „gefährlich(em)“ Denkmuster. Jeder einzelne von ihnen hat so richtig tief in die Mottenkiste des rechten „Kulturkampfs“ gegriffen.

Aber was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff? Denn der ist – zu Recht – umstritten: Kulturkampf, das klingt erst einmal abstrakt, nach Feuilleton-Kommentarspalte, das klingt, als gäbe es bei dem, was der Begriff bezeichnet, keine politische Komponente. Ein gefährlicher Trugschluss, denn rechter Kulturkampf bleibt nicht „nur“ bei Rhetorik (als sei die nicht gefährlich genug).

Der „Kulturkampf“ wird von rechten und reaktionären Kräften gekämpft, um ihre gesellschaftliche und kulturelle Deutungshoheit und Hierarchien zu verteidigen, die in einer progressiver und toleranter werdenden Gesellschaft ins Wanken geraten. In Ermangelung eines existierenden, besseren Begriffs, ist es richtig, „Kulturkampf“ weiterzuverwenden – aber es ist wichtig, zu erklären, dass er keine theoretische Fingerübung ist, sondern gefährliche Folgen hat.

Was ist der „Kulturkampf“?

Das Phänomen des „Kulturkampfs“ ist kein neues – breite Bekanntheit erlangte der Begriff im amerikanischen Kontext 1991 von James Davison Hunter in seinem Buch „Culture Wars – The Struggle to Define America. Er identifizierte darin zwei einander unvereinbar gegenüberstehende Impulse in der amerikanischen Gesellschaft: einen Richtung „Orthodoxie“ und einen Richtung „Progressivismus“. Ersterer geht dabei laut Hunter davon aus, dass die Ursprünge menschlicher Institutionen und Gesetze nicht von Menschen verändert werden können, sondern dass sie eine natürliche Hierarchie und Struktur bilden. Auf der anderen Seite steht ein progressives Weltbild, bei dem das Individuum und seine Freiheit im Mittelpunkt stehen.

Die Religiöse Rechte in den USA zeigt, dass sich entlang dieser Trennlinie zwischen traditionalistischem und progressivem (progressiv bedeutet hier übrigens nicht automatisch politisch „links“) Weltbild, auch Religionsgemeinschaften neu einordnen – und nicht mehr, wie noch Jahrzehnte vorher, entlang von Denominationsgrenzen. Die Ziele dieser Allianz vereinen sich unter dem Schirm des Weißen, christlichen Nationalismus: das Land „zurückzuführen“ zu einem Zustand, in dem weiße, rechte christliche Gesellschaftsordnung herrscht. Der „Kulturkampf“ der amerikanischen Rechten ist keine theoretische Überlegung, sondern hat sehr reale Ziele, die sich in aktueller Republikanischer Gesetzgebung und Urteilen der rechten 6-3 Mehrheit des Obersten Gerichtshofs verwirklicht sehen: Eine christlich-nationalistische Hegemonie. 

„Kulturkampf“, um christlich-nationalistische Hegemonie zu erreichen

Dazu sind sogenannte „Kulturkämpfe“ für die Rechte ein nützliches Werkzeug, denn sie formen Identität, indem sie ausgrenzen, einteilen in „echte Amerikaner“, „echte“ Bürger und solche, die keine „wahren“ Teile des Volkes sind. Denen nicht zusteht, die vollen Bürgerrechte zu genießen, wie „richtige“ Amerikaner. Denn darum geht es beim rechten Kulturkampf im Kern: zu markieren, wer dazu gehört, wer Rechte haben darf, wer existieren darf, und wer nicht. Es geht um kulturelle und moralische Deutungshoheit, erklärt die Politikwissenschaftlerin Julia Mourão Permoser:

„Moralische Kontroversen drehen sich um Fragen von symbolischer Bedeutung für das öffentliche Bild der Nation, für ihre Selbstdefinition als Wertegemeinschaft, die nicht nur durch Zufall und Territorium verbunden ist, sondern auch durch die Tatsache, dass ihre Bürger bestimmte Grundprinzipien teilen. Es ist diese Wahrnehmung, dass ein Thema den Kern dessen berührt, wer wir sind, die vielen Moralfragen eine herausragende Stellung in den heutigen Wertekonflikten verschafft hat.“

„Kulturkampf“ hat auch seine Wurzeln in der „Neuen Rechten“

Aber um „Kulturkämpfe“ von rechts zu finden, auch in der europäischen Vergangenheit, müssen wir nicht in die USA schauen – auch wenn der Blick über den Atlantik bezüglich der Übernahme spezifischer „Kulturkampf“-Narrative der US-amerikanischen Rechten sehr aufschlussreich ist. Denn die Idee des rechten „Kulturkampfs“ findet sich schon bei der Nouvelle Droite, der neuen Rechten, die sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs an der konservativen Revolution und ihren Vordenkern orientierte. Sie war ihnen nicht allein gekommen – sondern hatten sie von dem neo-marxistischen Intellektuellen Antonio Gramsci entlehnt und verfremdet. Laut Gramsci kann politische Macht und Herrschaft nicht durch Zwang, also zum Beispiel einen Putsch, hergestellt werden, sondern durch das, was er „kulturelle Hegemonie“ nannte.

Das bedeutet vor allem: Der gesellschaftliche Sinneswandel findet nicht allein auf der politischen Bühne statt, sondern im vorpolitischen Raum – quasi vom Stammtisch bis zum Elternabend. Die Politologin Natascha Strobl erklärt, wie die Rechte Gramscis Ansatz verfremdet hat:

„Gramsci, als Marxist, vernachlässigt (…) keinesfalls die ökonomische Ebene. Zugleich geht es bei ihm in einem sehr demokratischen Ansatz darum, alle an diesen Debatten teilhaben zu lassen. Die Nouvelle Droite nimmt Gramscis Theorie und macht sie für rechts nutzbar. Dabei geht jeder ökonomische und demokratische Ansatz verloren. In diesem Gramscianismus von rechts bleibt die Idee eines metapolitischen Raumes über, den es zu besetzen gilt. Dies soll nicht geschehen, indem Marginalisierte an Debatten teilhaben, sondern indem Multiplikator_innen und schon traditionelle Eliten einer Gesellschaft nach rechts gezogen und mit entsprechenden Inhalten und Strategien versorgt werden.“ 

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer erklärt, weshalb rechtsextreme und einige konservative Akteur*innen sich dieser Methode bedienen:

„Dabei verspricht man, auch sozioökonomische Probleme auf eine kulturelle Weise zu lösen. Die als Chaos wahrgenommene globalisierte Gegenwart soll beseitigt und eine ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt werden. Es geht hier immer um ein „take back control“. Dabei kommt ein spezieller Konflikttypus zum Tragen. Es geht nicht um Verhandlungslösungen, sondern um ein autoritäres, gewaltanfälliges ‚Entweder-oder‘ Prinzip.“

Man lügt „Linke“ maximal böse, um seine Absichten zu verstecken

Rechter „Kulturkampf“ stellt sich dabei gern als Defensivreaktion auf eine angeblich außer Rand und Band geratene, ominöse „Linke“ dar – denn das lässt sich besser vermarkten, als wenn man offen zugibt, die Rechte bestimmter Menschengruppen einschränken oder bestehende strukturelle Ungleichheiten beibehalten oder wieder einführen zu wollen. Dabei bedienen sich Rechte eines Wortbaukastens aus Schlagworten, um die sie aktuelle moralische Paniken konstruieren – von „Cancel Culture“ über die Dämonisierung der Existenz von trans Menschen, Schreckensmärchen über „Gender Ideologie“ bis hin zum neusten Trend-Buzzword, dass von rechts approbiert wird:

„Wokeismus“, jüngst demonstriert von CDU/CSU Politikern wie Markus Söder, Friedrich Merz, Christoph Ploß, aber auch von rechten Medienfiguren wie Julian Reichelt, Judith Sevinç Basad und Anna Schneider, und der konservativen Denkfabrik „Republik 21“ – die Vorsitzenden sind die frühere CDU Familienministerin Kristina Schröder und Andreas Rödder, der an der Verfassung eines neuen CDU-Grundsatzprogramms mitarbeitet.

„Woke“ dient der amerikanischen Rechten als Schlagwort, was genau sie damit meint, bleibt unklar. Das Wort subsumiert in ihrer Verwendung alles, das in irgendeiner Art gegen Weiße, reaktionäre, christliche Sensibilitäten verstößt. Am ehesten lässt sich „Wokeismus“ in ihren Augen als ein gegen Weiße gerichtetes rassistisches Zensurregime, das Andersdenkende unterdrücke, zusammenfassen. 

Was bedeutet „Woke“ für Kulturkämpfer überhaupt? Egal, es ist das Feindbild

Es ist kein Zufall, dass sie sich in der Übernahme dieses Begriffs an der amerikanischen Rechten orientieren: Denn seinen Ursprung hat der Begriff „woke“ in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und entstammt eigentlich dem African-American Vernacular English (AAVE) und bezeichnet ab etwa 1920er Jahren in der in-group-Verwendung den Zustand besonderer Wachsamkeit, in dem eine Schwarze Person sich aufgrund der permanenten Lebensgefahr in einer rassistischen Gesellschaft bewegen muss.

Dass der Gouverneur von Florida sein Gesetz, das Lehrer*innen mit Geld- und Haftstrafen droht, wenn sie beispielsweise kritischen, faktenbasierten Geschichtsunterricht halten und ihre Schüler*innen über Sklaverei und die strukturelle Diskriminierung schwarzer Menschen in den USA informieren, ausgerechnet den Namen „Stop W.O.K.E. Act“ gegeben hat, ist eine Art perfider Scherz: Die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung, die für die Freiheit und Gleichberechtigung schwarzer Menschen gekämpft hat, kann nicht mehr gefahrlos im Klassenzimmer gelehrt werden – und als besonderen Hohn macht sich DeSantis auch noch den Begriff zu eigen, der im AAVE den Zustand der Bedrohung bezeichnet, gegen die Bürgerrechtsbewegung kämpft.

Wie Republikaner systematisch zensieren

Das Gesetz verbietet ebenfalls die Lehre über „Gender“-Themen und reiht sich ein in eine Anzahl von Republikanischen Gesetzen, die LGBTQ-Themen in Schulen kriminalisieren. Es ist eines von vielen Gesetzen, die in Zensurabsicht verabschiedet wurden, um zu bestimmen, wessen Stimmen gehört werden dürfen – und wessen zum Schweigen gebracht werden sollen: Die von BPoC und LGBTQ-Menschen und ihren Allies, die es wagen, die Lebensrealität dieser marginalisierten Gruppen im Unterrichtskontext – und generell am Arbeitsplatz, denn das gesetz bezieht sich nicht nur auf Schulen – zu thematisieren.

Das sind die politischen Verbündeten, deren Sprache – und Agenda sich Teile der CDU/CSU und des konservativen Medienspektrums zu eigen machen – in dem Trugschluss, so Wähler*innen von der erstarkenden AfD zurückgewinnen zu können. Aber andersherum wird ein Schuh draus: Je mehr Konservative rechtes Kampf-Vokabular und die Narrative übernehmen, desto salonfähiger werden Rechtsaußen- und rechtsextreme Positionen – nur an der Wahlurne zeigt sich der Erfolg für die CDU/CSU nicht.

Konservative werden zum Steigbügelhalter für Faschisten

Steigbügelhalter für die AfD scheint die Funktion der CDU/CSU zu sein, die Friedrich Merz und seine Mitstreiter*innen anstreben – und ganz abgesehen von der strategischen Absurdität, die Grünen – eine Partei, mit der die CDU in sechs Landesregierungen eine Koalition bildet, zum „Hauptgegner“ zu erklären, bedient Merz zugleich das rechte Narrativ von den angeblich freiheitsgefährdenden Grünen.

Die Republikaner erklären Gasherde zum neuen Symbol für die Freiheit, ein paar Monate später zieht die CDU nach und zieht für Ölheizungen in den „Kulturkampf“ – und gegen eine pluralistische, tolerante Demokratie. Denn das ist die gemeinsame Sache, die hinter der auf den ersten Blick abstrusen Aufregung über Heizungen, Gasherde, Gendern, und Pronomen steckt. Albern finden das nur diejenigen, deren Privilegien nicht durch die Konsequenzen gefährdet werden, wenn der „Kulturkampf“ in Gesetzesform gegossen wird. Die Übernahme rechter „Kulturkampf“-Narrative ist nicht nur schrill, abstrus und faktenfrei – sondern vor allem demokratiegefährdend. 

Artikelbild: Peter Kneffel/dpa