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Offener Brief an Ankerherz: Man merkt, dass ihr nicht betroffen seid

von | Jun 15, 2020 | Aktuelles, Kommentar

Offener Brief an Ankerherz

Liebes Ankerherz-Team, lieber Stefan, ich möchte Euch gerne hier und öffentlich antworten, weil ich glaube, dass einiges ganz grundsätzlich im Argen liegt.

Erst einmal: Es ist schön zu sehen, mit welcher Leidenschaft und Kreativität Ihr Euch für die Demokratie in diesem Land und für unser friedliches Zusammenleben einsetzt. All das macht es umso bedauerlicher, wenn Ihr Euch wiederholt „missverständlich“ ausdrückt und rassistische Klischees fortführt oder rechtsradikale Personen verharmlost.

Beispiel Bernd Lucke. Der Mann hat eine rechtsradikale Partei namens AfD gegründet und hat, nachdem er vom Parteivorsitz der AfD abgewählt wurde, die Partei verlassen, um eine andere rechtsradikale Partei zu gründen. Lucke sprach von Flüchtlingen als „sozialen Bodensatz“, von einer „Entartung der Demokratie“ und benutzte den Goebbels-Begriff der „Altparteien“.

Unter seiner Ägide ließen sich AfD-Plakate nicht von NPD-Plakaten unterscheiden, am Gründungsparteitag seiner AfD wurde darüber spekuliert, ob die NSU-Morde nicht in Wahrheit inszeniert wären und Anfang 2014 sprach er davon, dass „Randgruppen“ wie Sinti und Roma, die „leider“ in großer Zahl kämen, „nicht integrierbar“ seien (Mehr dazu).

Bernd Lucke ist mitschuldig am Rechtsextremismus der AfD

Was man halt so macht als nicht-rechtsradikale Person des Bürgertums.

Und dieser Mann, der den Untergang des Euros und der europäischen Marktwirtschaft beschwor, soll nun also an einer Universität Ökonomie unterrichten. Wie fühlt sich wohl ein Student, der einer Roma-Familie entstammt, wenn er bei ihm im Seminar sitzt? Wie fühlt sich ein Student, der als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist und nun weiß, dass sein Professor ihn für den sozialen Bodensatz hält?

Findet das denn niemand irgendwie seltsam? Die Antwort: Nein. Weder Bildungsministerium, Kultusministerkonferenz oder die Universität Hamburg haben ein Problem damit, dass Professor Lucke an einer internationalen Universität Studierende unterrichtet, die Mitglieder seiner ehemaligen Partei ausbürgern, abknallen oder entsorgen wollen.

Ich halte das für falsch. Viele andere halten das auch für falsch. Also haben sie demonstriert und protestiert. Einige wenige haben ihn wohl geschubst, das ist vollumfänglich zu verurteilen, aber dass es keine gewaltsamen Proteste gab, muss selbst die Universität Hamburg zugeben (Quelle).

Du hast übrigens nicht protestiert, sondern die Proteste verurteilt

Kann man machen. Wir sind ja ein freies Land. Und natürlich hast Du Recht damit, dass Ihr Euch keine Beleidigungen und Beschimpfungen antun müsst. Aber wer wie Ihr nicht aufhört, davon zu erzählen, wie Ihr Euch gegen die AfD positioniert, muss Kritik an einer Verteidigung Luckes aushalten können. Genau das habt Ihr aber nicht. Ihr habt keine Kritik ausgehalten, sondern wild um Euch geschlagen, die Menschen auf Eurer Seite beschimpft und den Ursprungspost gelöscht – das macht Ihr leider öfter.

Ich meine, würdest Du denn wollen, dass Deine Kinder von Björn Höcke unterrichtet würden? Warum eigentlich nicht? Höcke ist verbeamteter Lehrer und Bürger dieses Landes. Warum sollte man ihm also – um es mit Deinen Worten zu sagen – seine Meinung oder seinen Beruf verbieten? Er hat zwar Besuchsverbot in nahezu allen KZ-Gedenkstätten dieses Landes, seine Parteifreunde können seine Texte nicht von denen Hitlers unterscheiden, aber who cares? Warum sollten Deine Kinder also nicht von Björn Höcke unterrichtet werden, wenn sich der syrische Austauschstudent zeitgleich Bernd Lucke anhören muss?

Beispiel Zwarte Piet

In den Niederlanden gibt es die Tradition, weiße Menschen schwarz anzumalen und als „schwarze Peter“ neben dem Nikolaus durch die Stadt ziehen zu lassen (mehr dazu). Das ist gelinde gesagt, höchst problematisch. Es erinnert an eine Verballhornung schwarzer Menschen, es vereint alle problematischen Aspekte des „Blackfacing“ und hat zu einem eklatanten Riss in der niederländischen Gesellschaft geführt. Man könnte meinen, es herrschte in den Niederlande ein Kulturkampf allein um die Figur des Zwarte Piet.

Mittlerweile finden Demonstrationen und Gegendemonstrationen unter massivem Polizeiaufgebot statt, die niederländische Rechtsaußenpartei hat es zu ihrem Thema gemacht und selbst die UN und die UNESCO befinden sich inmitten dieses Konflikts. Um all das zu wissen, reicht bereits ein kurzer Blick in den Wikipedia-Artikel.

Und was schreibt Ankerherz zu alledem?

„Sinterklaas & der Zwarte Piet sind mit dem Seenotrettungsboot da! ⚓️❤️ Kinderfest am Strand… Schöne Tradition! ???“ (Link)

https://www.facebook.com/Ankerherz/videos/3034338496790659/

Auch hier wart Ihr nicht konfliktfähig, habt viel gelöscht, viel geblockt, viel geflucht und Euch erklärt, statt einfach darauf einzugehen, dass dieses Ritual ein rassistisches ist.

Beispiel Polizei

Schwarze Menschen in Deutschland berichten seit Jahrzehnten von rassistischen Polizeikontrollen, von Polizeigewalt, von struktureller Ungerechtigkeit in den Sicherheitsbehörden. Es vergeht kaum eine Woche, in der keine Meldung darüber auftaucht, wie rechtsextreme Polizisten enttarnt werden. Es gibt kaum rechtsextreme Bestrebungen, in die die Polizei nicht in irgendeiner skandalträchtigen Art und Weise verwickelt war. NSU, NSU 2.0, Gruppe S., Uniter, Nordkreuz, Hannibal, der Mord an Walter Lübcke, usw. (mehr dazu).

Amnesty International hat im Jahr 2010 einen Schwerpunktbericht über rassistische Polizeigewalt in Deutschland veröffentlicht (Quelle). Der UN-Menschenrechtsrat hat mehrfach auf den institutionalisierten Rassismus in der Polizei aufmerksam gemacht (Quelle), die Antidiskriminierungsstelle des Bundes erkennt zudem an, dass es eine Ungleichbehandlung durch Sicherheitsbehörden gibt (Quelle).

Das alles könnte man wissen, wenn man sich denn nur informieren wollte. Oder man macht es wie ihr und erzählt allen Ernstes, dass Ihr nicht glaubt, dass es strukturellen Rassismus gibt, dass die Polizei ein „Spiegelbild der Gesellschaft“ sei und dass alles Fehlverhalten nur „Einzelfälle“ wären. Das alles ist nicht nur Quatsch, sondern auch gefährlicher Quatsch, weil er die rechte Gefahr in den Sicherheitsbehörden verharmlost und den Rassismus in deren Organisation zementiert.

Auf Kritik an Euren Worten habt Ihr reagiert, wie Ihr immer reagiert: Mit Wut, mit Zorn, mit Löschungen und vielen Erklärungen.

Die Sache ist halt: Wenn Ihr bei Ankerherz den AfD-Gründer verteidigt und die Proteste gegen ihn diffamiert, wenn Ihr ein rassistisches Kulturmerkmal der Niederlande als „schöne Tradition“ adelt und wenn Ihr nicht einmal in der Lage seid, grundlegende Prinzipien des strukturellen Rassismus in diesem Land zu verstehen und anzuerkennen, dann solltet Ihr mit Eurem Kampf gegen die AfD keine allzu große Welle machen.

Als Literaturverlag, als Radiosender, als Social Media Profis solltet Ihr wissen, wovon Ihr schreibt, wenn Ihr schreibt. Und mindestens solltet Ihr auf Kritik eingehen und sie anerkennen, wenn sie, wie in vielen Fällen, freundlich und konstruktiv formuliert wird. Aber nach allen drei Malen, die ich oben aufgeführt habe, war Eure Reaktion vollkatastrophal. Ihr habt mittlerweile mehr Menschen auf Eurer Seite geblockt als Hamburg Einwohner hat. Ihr habt mindestens drei Mal bewiesen, dass Ihr recht schnell in denselben Sprachduktus verfallt wie die AfD (schaut Euch gerne deren Position zu den Themen „Zwarte Piet“ und „Polizei“ an).

Selbst als Antwort auf meinen lapidaren Kommentar schreibt Ihr:

„Vielleicht war mein Post unsensibel in dem Punkt, dass ihn manche Menschen gegen sich interpretiert haben, was nie so gemeint war.“

Vielleicht. Unsensibel. Aha…

Drei Schlagzeilen von einem Tag, dem 12.06.2020:

– KSK-Hauptmann schickt Hilferuf an Verteidigungsministerium, weil rechte Umtriebe ignoriert und toleriert werden (Quelle)
– Schwarze Frau wird im Drogerie-Markt rassistisch beleidigt. Die herbeigerufene Polizei nimmt keine Anzeige auf, sondern beleidigt die Frau weiter (Quelle)
– Die Polizei ist nicht Willens und nicht in der Lage, den Rechtsextremismus in ihren eigenen Reihen zu erforschen. Es fehlen Daten, mancherorts wird offen opponiert (Quelle)

Ihr seid nicht betroffen, Ankerherz

So schön es auch ist, dass Ihr Euch bei Ankerherz gegen die AfD einsetzt, so sehr merkt man Euch doch leider immer wieder an, dass Ihr von alledem nicht wirklich betroffen seid. Ihr seid nicht davon betroffen, wenn die AfD nach ihrer Machtergreifung „aufräumen“ will. Ihr seid nicht betroffen, wenn sich Menschen schwarz anmalen und damit Eure Hautfarbe verhöhnen. Und ihr seid nicht betroffen, wenn die Polizei Racial Profiling betreibt und Menschen belästigt, die eben nicht so aussehen wie Ihr.

Ihr seid nicht betroffen. Und das merkt man immer wieder. Vielleicht solltet Ihr einfach mal auf die Betroffenen hören. Dann braucht Ihr auch keine emotionalen Videos über vermeidbare Shitstürme veröffentlichen.

Herzliche Grüße,
Stephan

Wir hatten uns bereits an euch gewendet (Link):

Lucke, AfD & Antifaschismus: Offener Brief an „Ankerherz“

Original auf Facebook, Artikelbild: Ankerherz