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Russische Medien blamieren sich: Normale Labordokumente sollen Biowaffen beweisen?

von | Mrz 19, 2022 | Analyse

Russische Medien halten an Biowaffen-Lüge fest

Auch nach zahlreichen Faktenchecks und Stellungnahmen der US-amerikanischen (Quelle) sowie ukrainischen (Quelle) Regierung halten russische Medien an ihrer Behauptung fest: in ukrainischen Laboren seien mithilfe US-amerikanischer Unterstützung Biowaffen entwickelt worden. Wir berichteten:

Russland & China streuen Mythos über US-Biolabore in der Ukraine ohne Belege


Einige Dokumente sollen diese haltlosen Behauptungen nun belegen. Verschiedene Biolog:innen haben sich die Akten jedoch näher angesehen und festgestellt: Es handelt sich um gängige bürokratische Dokumente aus dem Alltag eines ukrainischen Labors – und gefährliche Krankheitserreger sind auch nicht in Sicht.

RIA Novosti handelt Dokumente fälschlich als Beweis

Die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti veröffentlichte die Dokumente am 6. März in ihrer Telegram-Gruppe (Quelle). Demnach habe sie die Akten, die angeblich darauf hinwiesen, dass die ukrainischen Labore Beweise zerstören, vom Verteidigungsministerium der Russischen Föderation erhalten. Weiterhin würden die Dokumente „bestätigen, dass in den ukrainischen biologischen Laboratorien in unmittelbarer Nähe des Territoriums Russlands die Entwicklung von Komponenten für biologische Waffen durchgeführt wurde“ (Fake).

Fake News ziehen weite Kreise

Bestätigt ist zwar gar nichts, doch neben anderen nutzte auch der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald, der seit einigen Wochen zu russischer Propaganda neigt, die Fake News für Klicks. Auf seinem YouTube-Kanal widmete er sich dem Thema in einem einstündigen Video und machte die Propaganda Putins so einem breiteren Publikum zugänglich.
https://twitter.com/ichbinilya/status/1503077582539005953
Die Fake News hielten zudem Einzug in das US-amerikanische Repräsentantenhaus. Dort machte sich die Politikerin Marjorie Taylor Greene die Propaganda zunutze. In der Vergangenheit bekannte sie sich bereits mehrfach offen zu rechtsextremen Ansichten und Verschwörungserzählungen. Am 17. März stellte die Republikanerin ihren Gesetzesentwurf zum Stoppen der Ausbreitung von mit Steuergeldern finanzierten Biowaffen vor. In ihrer Begründung bezog sie sich auf die russische Propaganda der ukrainischen Biowaffen, die angeblich mit Hilfe US-amerikanischer Unterstützung entwickelt werden und ein gesundheitliches Risiko darstellen (Quelle).
Und auch über die Vereinigten Staaten und Russland hinaus breiten sich Putins Lügen aus. So teilte unter anderem Zhao Lijian, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, die Behauptungen über ukrainische Biowaffen. Auf Facebook wurden seine Aussagen gar als bezahlte Anzeigen beworben, obwohl Meta laut den Richtlinien keine Werbung schalten darf, die „Behauptungen enthalten, die von unabhängigen Prüfern entkräftet wurden“ (Quelle).

Die Dokumente stammen aus gewöhnlichen Laboratorien

In einem ausführlichen Thread auf Twitter widerlegte die Genetikerin Olga Pettersson gemeinsam mit weiteren Biolog:innen aus Belarus, Frankreich, Russland und Schweden nun den vermeintlichen Beweis (Quelle). Der investigative Journalist Ilya Lozovsky übersetzte wiederum die essenziellen Infos von Russisch auf Englisch (Quelle).
Die besagten Dokumente stammen demnach aus regionalen Zentren für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten des ukrainischen Gesundheitsministeriums. Die sanitären und epidemiologischen Institutionen befinden sich in Charkiw sowie Poltawa (Quelle). So weit, so normal und gängig.

Die vermeintlichen Beweise sind routinemäßige Aufzeichnungen

Pettersson benennt verschiedene Schutzniveaus, die beim Umgang mit Mikroben zu beachten sind – von harmlosen bis hin zu tödlichen Organismen (Quelle). Schon bei Organismen der Stufe zwei, mindestens aber bei solchen der Stufen drei und vier gibt es laut Pettersson festgelegte Routinen zum Zerstören der Mikroben (Quelle). Dazu gehört auch die schriftliche Dokumentation.
Wenn die Organismen also nach Beendigung der Experimente beseitigt werden, erstellt der Sicherheitsbeauftragte ein Zertifikat der Zerstörung – der Ordnung halber. Die veröffentlichten Dokumente sagen also zunächst lediglich aus, dass in den ukrainischen Laboratorien alles mit rechten Dingen zugeht. Denn bei den angefertigten Protokollen handelt es sich um einen internationalen Grundsatz (Quelle).

Keine gefährlichen Bakterien zu finden

Auch die Tatsache, dass in den ukrainischen Laboratorien Bakterien aufbewahrt werden, ist völlig normal – und dient dem Zweck der Einrichtung. Denn hier werden etwa Methoden wie der PCR-Test mithilfe der Bakterien auf ihre Wirkfähigkeit geprüft. Um solche Tests möglichst einfach durchführen zu können, bieten sich schon einsatzbereite Kulturen an. Diese erwerben Laboratorien bei gängigen Anbietern wie etwa Galen aus Russland (Quelle).
Auch die verwendeten Bakterien, die laut der Liste vernichtet wurden, sind nicht weiter besorgniserregend: „Stehen tödliche Krankheitserreger auf der Liste? Nicht einer“, schreibt Pettersson. „KEINE Cholera, Pest, Tularämie, Typhus, Milzbrand, Legionärskrankheit, Syphilis, usw.“ (Quelle).
Eines der potenziell gefährlichen Bakterien auf der Liste ist das Kolibakterium – es kann Durchfall, Übelkeit und Erbrechen auslösen. Doch auch das sogenannte E. coli ist nur in harmloseren Ausführungen zu finden. Um daraus einen gefährlichen Krankheitserreger mit einer ähnlichen Sterblichkeit wie Covid-19 zu machen, müssten sich die Labore gedulden: Es dauert mehrere Jahrhunderte.
https://twitter.com/ichbinilya/status/1503078681073356801?s=20&t=eO6mp37PCHyfq5PqCSAmPQ

Auch russische Biolog:innen wehren sich gegen Fake News

Fassungslos über die dreiste Desinformation meldeten sich trotz des hohen Risikos auch russische Biolog:innen aus dem Landesinneren zu Wort (Quelle). So forderte Eugene Lewitin in einem offenen Brief an die russischen Medien, dass diese aufhören sollten, falsche Propaganda zu verbreiten. In dem Brief knüpft sich der russische Biologe die vermeintlichen Beweise vor. Genau wie Pettersson kommt er zu dem Schluss:

„In diesem Fall sind die von den Medien angeführten »Beweise« offensichtlich falsch. Sie deuten nicht auf die Entwicklung biologischer Waffen oder gar auf die Verwendung besonders gefährlicher Erreger in den Laboren hin. Die von RIA Novosti und anderen russischen Medien veröffentlichte Liste der vernichteten Stämme enthält keinen einzigen besonders gefährlichen Stamm.“ (Quelle)

Bis zum 18. März erreichte der Brief bereits 850 Unterschriften.

Fazit: Dokumente zeugen von ordnungsgemäßem Umgang mit gängigen Bakterien

Pettersson und ihre Kolleg:innen machen ebenso wie Lewitin deutlich: Auf den Listen befinden sich keine gefährlichen Krankheitserreger, die als Biowaffen dienen könnten. Alles, was die veröffentlichen Dokumente offenbaren, sind gewöhnliche Routinen zweier biologischer Labore. „Um biologische Waffen herzustellen, braucht man eine gute Ausrüstung und eine viel größere Anzahl von Stämmen als die aufgeführten“, schreibt Pettersson (Quelle).
Anstatt sich umfassend zu informieren, reißt RIA Novosti also ein alltägliches Dokument völlig aus dem Kontext, um seine abstrusen „Theorien“ zu belegen. Das Ganze dient einem Zweck: ablenken von den russischen Kriegsverbrechen.
Wenn „Querdenker“ und andere das unkritisch teilen, muss man darauf aufmerksam machen: Auch in Deutschland und vielen anderen Ländern gibt es normale Biolabore. Wenn solche dünnen Beweise zur Legitimierung seines Angriffskriegs ausreichen, kann Putin praktisch überall einmarschieren und dort Zivilisten töten.

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Artikelbild: shutterstock.com / Screenshots

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