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Die große Analyse: Warum Daniele Ganser nicht seriös ist

von | Feb 23, 2023 | Analyse

Die Selbstinszenierung sitzt perfekt. Gut gekleidet, stets höflich und ruhig, sympathischer Schweizer Dialekt. Daniele Ganser kann gut mit Menschen. Er hat, was man gerne „Charme“ nennt, oder sogar „Charisma“. Und das kommt an. Seine Followerzahlen auf unterschiedlichen sozialen Netzwerken und Plattformen sind beachtlich.

Und seine Fangemeinde beschränkt sich nicht auf die virtuelle Welt. Seit dem Ende der Corona-Maßnahmen ist er quasi wieder durchgehend auf Vortragstour, die meisten Veranstaltungen sind ausgebucht. Doch nun wurden seine Auftritte in Dortmund und Nürnberg von Seiten der Städte abgesagt. Die Ganser-Fangemeinde wittert Zensur, er selbst lässt sich gleich zu einem Vergleich mit der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl hinreisen.

Aber Tatsache ist: Unter dem Deckmantel angeblicher Wissenschaftlichkeit verbreitet Ganser seit Jahren Verschwörungsmythen und macht damit ein gutes Geschäft. Aktuell steht das Thema Ukraine im Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Hier lest ihr, warum Daniele Ganser unseriös ist und seine Aussagen alles andere als wissenschaftlich sind, sondern sogar ziemlich gefährlich.

One-Love Wohlfühl-Blabla und Verschwörungsmythen

Daniele Ganser inszeniert sich als Wissenschaftler. Er beschreibt sich als „Historiker“ und „Friedensforscher“, Leiter eines Instituts für „Peace and Energy Research“. Er untersuche die Themen Frieden, Energie, Medien, Krieg und Terror und teile seine „Forschungsresultate“ über Social Media, heißt es auf seiner Homepage. Seine Reichweite in Social Medien ist beachtlich. Mehrere Videos mit ihm auf YouTube wurden über eine Million mal geklickt. Und diese Anhängerschaft ist auch im echten Leben treu. Seine Vorträge sind oft ausverkauft, teilweise bietet er zwei Termine am selben Tag an. Heute lebt er von seinen Vorträgen und Büchern.

Die Titel seiner Vorträge versprechen Weltpolitik mit einer Prise Skeptizismus: 

 “Krieg in der Ukraine: Warum hören wir nur die halbe Geschichte?”, “Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht”, “Können wir den Medien vertrauen?” oder “Wie hilft Achtsamkeit gegen Kriegspropaganda?”.

Aber dahinter verbergen sich weichgespülte Kalendersprüche a la „Wir sind alle eine Menschheitsfamilie”, gepaart mit geopolitischen Falschaussagen und verkürzten Welterklärungen, die nahtlos in Verschwörungsmythen übergehen. Von Wissenschaftlichkeit ist dabei weit und breit keine Spur. 

Michael Butter, ein führender Experte zum Thema Verschwörungsmythen, beschreibt Ganser als:

 „Prototyp desjenigen Verschwörungs­theoretikers, der vorgibt, nur Fragen zu stellen, implizit aber eine Verschwörungs­theorie entwirft”

Die Beziehung zwischen Ganser und seiner Fangemeinschaft vergleicht er mit der zwischen einem Guru und seinen Jüngern. Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg erklärt gegenüber T-Online:

„Ich halte Daniele Ganser für einen antiwestlichen Verschwörungsunternehmer, der mit der Verbreitung von Verschwörungsmythen seit Jahren Geld verdient.“

Rebecca Seidler, Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, erklärte gegenüber dem Schweizer Nachrichtenportal Watson, Ganser verbreite

„krude Verschwörungserzählungen, die häufig in antisemitischen Sprachbildern enden“.

Aber statt uns nur auf die Aussagen dieser Expert:innen zu beziehen, wollen wir uns seine Argumentation genauer ansehen und uns selbst ein Bild machen. Und da in seiner aktuellen Vortragsreihe das Thema Ukraine im Zentrum steht, wollen wir seine wichtigsten Aussagen in diesem Kontext genauer analysieren. Die hier aufgeführten Argumentationen stammen aus verschiedenen Videos von Vorträgen und Interviews Gansers, die auf YouTube zu finden sind, entstanden alle im Laufe des letzten Jahres.

Gansers Verschwörungsmythen zur Ukraine zerlegt

Putin-Propaganda auf der großen Bühne: Die Euromaidan-Proteste

Daniele Ganser gibt sich Mühe, zu Beginn seiner Ausführungen stets zu betonen, dass der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 illegal war. Das ist natürlich vollkommen richtig. Aber dann kommt ein sehr großes ABER, und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands spielt fortan in seinen Ausführungen kaum eine Rolle mehr. Der Krieg habe nicht 2022 begonnen, sondern 2014, sagt Ganser. So weit, so gut, immerhin annektierte Russland 2014 die Halbinsel Krim, nachdem russische Truppen ohne Rang- und Hoheitszeichen auf ihren Uniformen wichtige Knotenpunkte und Verwaltungsstrukturen besetzt hatten. Auch das war übrigens bereits völkerrechtswidrig gewesen.

Aber das meint Ganser nicht, wenn er von einem Kriegsbeginn 2014 spricht. Ihm geht es um die Proteste auf dem Euromaidan in Kyiv 2014. Zur Erinnerung: Über mehrere Monate kam es in Kyiv ab Herbst 2013 zu massiven Protesten, die breite Bevölkerungsschichten erfassten. Die Menschen protestierten gegen den russlandfreundlichen Kurs des damaligen Präsidenten sowie für demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien und gegen den autoritären Führungsstil. Dieser reagierte mit zunehmender Gewaltanwendung. Im Frühling 2014 kam es schließlich auf Druck der Protestierenden und nach internationalen Vermittlungsbemühungen zu einem Regierungswechsel. Das alles aber spielt für Ganser keine Rolle. Stattdessen spricht er von einem angeblichen „Putsch der USA“ während der Euromaidan Proteste. Eine extrem heftige Behauptung, die man genau belegen müsste.

Beweise? Fehlanzeige

Wie genau der von statten gegangen sein soll, erläutert er aber nicht näher. Als Beweis reicht ihm allein ein abgehörtes Telefonat zwischen der Europabeauftragten des US-Außenministers und dem US-Botschafter für die Ukraine, in dem die beiden darüber sprechen, welche Personen sie im Falle eines Regierungswechsels für geeignet als Übergangspräsident halten. Und ja, wenig überraschend finden sie einen westlich gerichteten Kandidaten geeigneter, als einen nach Russland orientierten. Genau wie tausende Lebensgefahr protestierende Menschen auf dem Maidan in Kyiv.

Dass dann, nach der Flucht Janukowytschs in Folge der anhaltenden Proteste der Bevölkerung, tatsächlich der von den beiden US-Diplomaten präferierte Mann Ministerpräsident der Übergangsregierung wurde, ist für Ganser offenbar Beweis genug für seine Verschwörungserzählung vom „US-amerikanischen Putsch“. Die Tatsache, dass sich die Protestierenden und das Parlament gegen die Weiterführung der Annäherung an Russland entschieden hatten, ignoriert er schlicht. Das ist kein Beleg, und mit Wissenschaft hat es erst recht nichts zu tun.

Zwar gilt es tatsächlich als umstritten, ob die Absetzung des vorherigen Präsidenten Janukowytsch in Einklang mit der ukrainischen Verfassung war. Aber selbst wenn sie es nicht war, ergibt sich daraus noch lange kein „Putsch“ der USA, sondern eben eine Revolution. Denn ein Telefonat allein mit der Äußerung eines Wunschkandidaten macht nun mal noch keinen Putsch aus. Zumal Janukowytsch nur einen Tag vor seiner Flucht eine Vereinbarung mit der Opposition unterzeichnet hatte, die den Weg für einen Regierungswechsel frei machte.

Länder treten freiwillig der NATo bei und brechen dabei keine Abkommen

Wenden wir uns einem zweiten Element in der Argumentation Gansers zu: Dem Verhältnis zwischen NATO und Russland in den Jahren nach Zusammenbruch der Sowjetunion. Zwar war das Verhältnis durchaus von Hochs und Tiefs geprägt. Aber Russland hat sich letztlich dazu verpflichtet, die Souveränität von ehemalig sowjetischen Ländern wie der Ukraine anzuerkennen. Außerdem hat Russland anerkannt, dass eine Entscheidung über einen möglichen Beitritt zur NATO eine souveräne Entscheidung der Staaten sein müsse und von Russland nicht per Veto verhindert werden könnte. Zwischenzeitlich war sogar ein Beitritt Russlands selbst zur NATO im Gespräch.

Völlig anders klingt das bei Gansers Erzählung zur Ukraine: Er hält voll an der alten Leier der NATO-Osterweiterung und des angeblichen Versprechens gegenüber Russlands fest. Das immer gleiche Narrativ: Nach dem Zusammenfall der Sowjetunion hätte die NATO Russland versprochen, dass keine weiteren Staaten östlich von Deutschland Teil der NATO werden würden. Daran hätte sich die NATO aber nicht gehalten, weswegen Russland nun die Ukraine angreifen müsse, um zu verhindern, dass sie ein NATO-Mitgliedstaat wird. Es ist eins zu eins die Propaganda Putins, die Ganser hier wiedergibt.

Dazu ein Blick in die Geschichte. Im Jahr 1994 verpflichteten sich die USA, Russland und Großbritannien im Rahmen des Budapester Memorandums dazu, die Souveränität der Ukraine anzuerkennen.

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Russland bricht abkommen

Nach dem Zusammenfall der Sowjetunion drängten immer mehr Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes darauf, in die NATO aufgenommen zu werden. Die 90er Jahre waren geprägt von zum Teil widersprüchlichen Bewegungen. Zwar machte Russland immer wieder klar, dass es gegen die Aufnahme weiterer Staaten in die NATO war. Einzelne Vertreter von NATO Mitgliedstaaten machten auch bei verschiedenen Anlässen entsprechende zustimmende Äußerungen. Aber ein bindendes Abkommen, in dem festgehalten wurde, dass keine Staaten östlich von Deutschland Mitglied der NATO würden, gab es nicht.

Was es dagegen sehr wohl gab, ist die NATO-Russland Grundakte von 1997. Darin verpflichten sich beide Seiten, die Souveränität aller Staaten zu achten. Russland erkennt an, dass es kein Veto-Recht gegen die Mitgliedschaft von Staaten in der NATO hat. Mit dem in Anschluss an die Grundakte gegründeten NATO-Russland-Rat wurden enge Beziehungen zwischen Russland und der NATO aufgebaut

Es zeigt sich also: Von einer rücksichtslosen Ausdehnung der NATO kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Staaten sind freiwillig beigetreten – meistens, um sich eben vor russischer Aggression zu schützen. Vielmehr nutzt Putin diese Behauptung nun, fast dreißig Jahre später, um den Angriff auf die Ukraine zu legitimieren. Und Ganser wiederholt hier einfach unverhohlen russische Kriegspropaganda.

Ganser leugnete russische Schuld am Butscha-Massaker

Während der Besatzung der Ortschaft Butscha in der Nähe von Kyiv durch russische Truppen wurden über 400 ukrainische Zivilist:innen umgebracht. Nach der Befreiung der Stadt kamen zahlreiche Berichte von Gräueltaten ans Licht. (Wir haben die wichtigsten russischen Propaganda-Fakes zu dem Thema bereits damals widerlegt, zum Beispiel hier, hier und hier.) Daniele Ganser leugnet das Massaker von Butscha. Oder vielmehr: Er bezweifelt, dass es von russischen Soldaten begangen wurde:

Er sei viel mehr der Meinung, dass ukrainische Kräfte nach der Befreiung der Stadt aus russischer Besatzung die über 400 Menschen getötet haben sollen. Dabei bezieht er sich auf einen Artikel von Anti-Spiegel, einem pro-russischen Fake News Portal, über dessen viele Pro-Putin-Lügen wir etwa hier geschrieben haben. Sein Hauptargument: Der Bürgermeister von Butscha soll in einem Interview kurz nach der Befreiung nichts von den Toten gesagt haben. Auch diese Lüge hatten wir schon seinerzeit widerlegt – der Bürgermeister hatte die russischen Kriegsverbrechen sehr wohl erwähnt, sobald sie nach dem Abzug der russischen Truppen entdeckt wurden.

Daraus schließt Ganser, brav der pro-russischen Propaganda folgend, dass ukrainische Truppen das Massaker begangen haben müssen. Das ist schon regelrecht bösartig. Alleine daraus, dass jemand etwas angeblich nicht erwähnt (was nicht mal stimmt), zu schließen, dass es nicht stattgefunden habe, ist wohl eine recht steile These, zumal wenn es zahlreiche Beweise von dem Massaker gibt. So existieren etwa Satellitenaufnahmen, die eindeutig zeigen, dass die Leichen noch vor dem Rückzug der russischen Truppen in den Straßen der Stadt lagen. Amnesty International war außerdem kurz nach der Befreiung vor Ort und hat Beweise zusammen getragen, die eindeutig belegen, dass die Morde von russischen Streitkräften verübt wurde. Warum verbreitet Ganser Lügen für den russischen Diktator?

Genozidale Rhetorik des Kreml wird ignoriert

Während Ganser also fröhlich jeden Murks aus Putins Trollfabriken wiedergibt, scheut er sich davor, den Kreml selbst bei Wort zu nehmen. Denn dort wird keinen Hehl daraus gemacht, worum es bei dem Angriff auf die Ukraine eigentlich geht: Putin und seine engen Verbündeten sprechen der Ukraine ihr unabhängiges Existenzrecht ab. In diesem Artikel haben wir uns das schon einmal genauer angeschaut.

Hier findet ihr eine schöne Widerlegung der klassischen prorussischen Propaganda-Narrativen:

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Im Falle der Ukraine verbreitet Ganser also klassische russische Propaganda. Dafür reist er einzelne Ereignisse aus dem Zusammenhang, lässt alles mögliche weg und generiert so ein völlig einseitiges und verzogenes Bild, bei dem das Böse von Anfang an feststeht. Das Böse, das ist bei Ganser ausnahmslos die USA.

Wenn ihr mehr Fakes von Ganser widerlegt bekommen möchtet, empfehlen wir euch sehr diese Videoreihe zu seinen wirren Verschwörungsmythen zu 9/11 und dieses Video zu seiner Lüge einer Besetzung Deutschlands. Ja, bei Ganser findet sich das Who-is-Who der Aluhut-Märchen.

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Nein, Ganser ist kein Wissenschaftler (mehr)

Kann jemand, der so viel offensichtlichen Quatsch erzählt, tatsächlich ein Wissenschaftler sein? Nein, natürlich nicht. Obwohl er sich immer wieder als „Friedensforscher“, „Historiker“ und „Institutsleiter“ inszeniert und gerne Dinge sagt wie „Wir als Historiker…”: Daniele Ganser ist längst kein Wissenschaftler mehr. Er arbeitet nicht mit wissenschaftlichen Methoden, seine Behauptungen widersprechen dem wissenschaftlichen Konsens – und oft genug der Beweislage. Im Wissenschaftsbetrieb ist er nicht anerkannt, ehemalige Kolleg:innen und tatsächliche Wissenschaftler:innen distanzieren sich von ihm und seinen Aussagen

Aber tatsächlich war das nicht immer so. Daniele Ganser hat zunächst eine wissenschaftliche Karriere verfolgt. Seine Promotion 2001 wurde in manchen Kreisen durchaus beachtet, auch wenn sein Doktorvater bereits im Vorwort des 2008 erschienen deutschen Fassung des Buches von einer „dürftigen Quellenlage“ sprach und betont, „bei einigen Passagen der Forschung würde man wünschen, daß noch mehr Quellen zugänglich gewesen wären” [sic]. Die Kritik der fehlenden Quellen ist bereits von Anfang an präsent, aber zunächst überwiegt das Bild des mutigen Wissenschaftlers.

Bis 2006 hatte Ganser Positionen als wissenschaftlicher Mitarbeiter inne, noch bis 2018 hielt er Seminare an Universitäten ab. Immer wieder trat er in verschiedenen seriösen Medien auf, war überhaupt sehr Medien-affin. Dann wird sein Lehrauftrag an der Uni St. Gallen 2018 nicht mehr erneuert, wie zuvor 2016 an der Uni Basel. Seit dem ist es mit der Wissenschaft bei Ganser nicht mehr weit her.

Was ist in der Zwischenzeit passiert? 

Der Anfang vom Ende der wissenschaftlichen Karriere dürfte ein Artikel gewesen sein, der 2006 im Tages-Anzeiger, einer der führenden deutschsprachigen Zeitschriften in der Schweiz, erscheint. Darin vertritt Ganser erstmals prominent Verschwörungsmythen über 9/11. Er tut so, als stünden aus wissenschaftlicher Sicht Theorien, die davon ausgehen, dass die Türme gesprengt wurden, tatsächlich ernsthaft zur Debatte. Innerhalb der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik der ETH Zürich, an der er angestellt ist, wird das nicht gerne gehört. Sein Vorgesetzter distanziert sich von den Aussagen. Als Gansers Projekt im selben Jahr ausläuft, muss er gehen.

Ab 2011 fokussierte Ganser sich zunehmend auf seine selbständige Arbeit. Er gründet SIPER, das “Swiss Institute for Peace and Energy Research”, über das er Vorträge abhält und sich so finanziert. Wissenschaftliche Arbeit findet dort nicht statt.

Im Rahmen einer Veranstaltung 2013 erklärt er seinen Schritt zur Gründung des Instituts: Er habe sich zunehmend in seiner „Forschungsfreiheit“ eingeschränkt gesehen. Nach einem Vortrag 2011, bei dem er Vermutungen geäußert hatte, dass der Anschlag auf das World Trade Center ein Insiderjob gewesen sein könnte, habe er Ärger von der Universitätsleitung bekommen. Weil die Forschung eben nicht so frei ist, wie man meinen würde.

Qualitätssicherung ist keine Zensur

Und genau dieses Opfer-Narrativ spinnt er bis heute weiter. Er als einzig Wahrhaftiger, gegen den gesamten Wissenschafts- und Medienbetrieb. Dabei hat er natürlich völlig recht: Die Forschung ist nicht völlig frei, es ist nicht einfach alles erlaubt, was gefällt. Die Forschung muss sich an wissenschaftliche Standards halten und an Fakten. Und wenn ein Universitätsangehöriger das öffentlich nicht tut, und dabei gleichzeitig seine Position als Universitätsangehöriger für einen Vertrauensvorschub nutzt, dann ist es naheliegend, dass das innerhalb des Wissenschaftsbetriebs auf Missbilligung trifft.

Nur ist das kein Skandal und erst recht keine Zensur, sondern Qualitätssicherung. Es ist eine typische Argumentation von Verschwörungsdenkern: Bei Kritik an ihren Aussagen vermuten sie lieber eine allgemeine Verschwörung und spielen sich als Opfer auf, als sich tatsächlich mit der Kritik auseinander zu setzten. Es ist okay, mal falsch zu liegen. Aber wenn du eher glaubst, dass alle um dich herum Geisterfahrer sind, als zu gucken, ob du falsch herumfährst, bist du das Problem.

In den folgenden Jahren lässt sich ein interessanter Prozess beobachten: Ganser entfernt sich immer mehr von wissenschaftlichen Arbeiten – und den Fakten. Während seine Thesen und Vorträge immer abenteuerlicher werden, wächst seine Fangemeinde stetig. Medien und Wissenschaftsbetrieb kritisieren seinen Stil und seine Inhalte – was ihm wiederum hilft, seinen eigenen Opfermythos weiter auszubauen. Es ist extrem einfach – und damit profitabel -, wenn man alles behaupten kann, was man will und jede Kritik zum Teil der Verschwörung zu konstruiert.

Ein denkwürdiger Auftritt

2017 findet dann ein denkwürdiger Auftritt bei der schweizer Talkrunde Arena statt. Die Runde kann vielleicht als eines der wenigen geglückten Beispiele von offener Konfrontation von Mythenerzählern auf öffentlicher Bühne betrachtet werden. Das Thema des Abends ist die Frage, ob man den Medien trauen könne. Ganser ist als Gast eingeladen, der zunächst wie die anderen Gäste um seine Meinung gebeten wird. Doch dann konfrontiert ihn der Moderator damit, falsche Aussagen zu verbreiten. Ganser widerspricht patzig wie ein getroffener Hund. Es ginge nicht an, dass man ihn hier als Verschwörungsideologen hinstellen wolle.

Genau deswegen sei gerade den öffentlich-rechtlichen Medien nicht zu trauen, behauptet er. Nur ist der Moderator leider recht gut vorbereitet und kann live in der Sendung zeigen, dass Ganser lügt. Einsicht, eine Entschuldigung oder zumindest eine Erklärung kann dieser nicht liefern. Stattdessen inszeniert er sich weiter als Opfer des bösen öffentlich-rechtlichen Fernsehens dar und sieht alle seine Behauptungen über die Medien bestätigt. Im Anschluss an die Sendung gehen bei dem Sender SRF zahlreiche Beschwerden ein – Daniele Ganser hatte auf seinen Social Media Kanälen dazu aufgerufen. Wenn man live als Lügner entlarvt wird, erstmal in den Gegenangriff übergehen und seine Fangemeinde für Cancel Culture aufhetzen?

In dem auf die Sendung folgenden Semester wird Ganser von der Uni St. Gallen nicht mehr engagiert. Sein ehemaliger Doktorvater soll ihn nach der Sendung angerufen und persönlich gerügt haben. Auf Nachfrage der Aargauer Zeitung erklärte er, dass er das Habilitationsprojekt Gansers aufgrund fehlender Wissenschaftlichkeit nicht mehr habe mittragen können. Ganz unten angekommen.

Ganser allein auf weiter Flur

Heute steht Ganser alleine auf weiter Flur da, zumindest was den Wissenschaftsbetrieb angeht. Wir hatten eingangs schon die Einschätzung des Verschwöungsmythen-Experten Butter zitiert. An dieser Stelle deswegen nur noch zwei ausgewählte Kritiken, die sich direkt auf seine Arbeitsweise beziehen:

Peer Henrik Hansen, ein Experte für Geheimdienstaktivitäten während des Kalten Krieges, verfasste schon 2006 eine umfassende Kritik von Gansers Promotionsbuch: 

“Gansers Schlussfolgerung ist, dass sich die Vereinigten Staaten, die CIA, der britische MI6 [ein Geheimdienst], die NATO und die westlichen Länder verschworen haben, aber er kann keinen Beweis oder auch nur eine Erklärung für die behauptete Verschwörung vorlegen. Akzeptierte kritische und methodische Ansätze der historischen Forschung scheinen in Gansers Analyse eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben.

Damit ein Buch über ein so kontroverses Thema als Teil der wissenschaftlichen Forschung ernst genommen werden kann, sollte es ein Kapitel über seine Quellen, Artikel und andere bibliografische Materialien enthalten. Die Forschungsmethoden des Autors sollten erwähnt werden, aber es wird hier keine Gelegenheit geboten, die von Ganser verwendeten Methoden zu studieren, so dass seine Behauptung einer großen Verschwörung noch schwerer zu glauben scheint.”

„alte Feindbilder bestärkt und Desinformationen verbreitet“

Der Politikwissenschaftler Jakob Kullik schließt eine Rezension mit folgenden Worten: 

“Insgesamt ist zu konstatieren, dass der Autor – ob unbewusst, aus weltanschaulichen oder verkaufsfördernden Gründen – an einem Negativitäts-Bias leidet. Für nahezu sämtliches Unglück in der Welt ein Land – und sei es das mächtigste – verantwortlich zu machen, ist einseitig und unseriös. Dadurch klärt das Buch nicht auf, sondern klagt an und unterschreitet selbst populärwissenschaftliche Grundstandards wie ein Mindestmaß an sachlicher Ausgewogenheit, analytischer Tiefe und Quellenkritik. Ohne Zweifel bleibt es wichtig und richtig, über die nicht wenigen Fehler und Verbrechen der amerikanischen Außenpolitik zu be

richten und aus ihnen zu lernen. Wenn dabei jedoch bewusst fundamentale Erkenntnis- und Analyseprinzipien unterlaufen und im Ergebnis alte Feindbilder bestärkt und Desinformationen verbreitet werden, ist niemandem geholfen – nicht der Wissenschaft und schon gar nicht dem Weltfrieden.”

Es gäbe noch viele weitere Beispiele von Wissenschaftler:innen, die Ganser bescheinigen, nicht wissenschaftlich zu arbeiten. Und da Wissenschaft nun einmal davon lebt, dass Kolleg:innen ihre Arbeit gegenseitig bewerten, muss man leider sagen: Wer von anderen Wissenschaftler:innen nicht ernst genommen wird, weil er keine nachvollziehbaren Quellen für seine Arbeit hat, ist kein Wissenschaftler.

Eine noch größere Sammlung von weiterer Kritik an Gansers zweifelhaften Umgang mit Quellen findet ihr hier. Wir halten also fest: Ganser verbreitet Thesen, die den Tatsachen widersprechen. Er verbreitet Desinformation und Propaganda. Zudem arbeitet er nicht wissenschaftlich und ist innerhalb der wissenschaftlichen Community nicht anerkannt. Er ist deswegen kein Wissenschaftler.

Und all die schönen Preise? 

Aber Daniele Ganser hat doch so viele schöne Preise bekommen? Das spricht doch vielleicht für Qualität und dafür, dass er wirklich mutig die Wahrheit ausspricht? Nun ja, schauen wir uns das kurz genauer an. Im Jahr 2020 hat Ganser drei Preise bekommen. Im Lebenslauf auf seiner Website posiert er jeweils stolz für ein Foto. 

Das eine ist eine YouTube Auszeichnung, die an Kanäle ab 100.000 Followern vergeben wird. Hat man die Followerzahl erreicht, kann man die Auszeichnung bei YouTube anfordern und bekommt sie dann zugeschickt. Im Januar 2022 gab es rund 360.000 Kanäle auf YouTube mit mehr als 100.000 Followern. 

Dann wäre da der Prosperity Award, den Ganser ebenfalls 2020 bekommen hat. Über den ist nicht viel herauszufinden, es gibt lediglich ein paar Erwähnungen in kleinen Lokalblättern. Der Preis scheint einfach der persönliche Spleen eines Schweizer Kleinunternehmers zu sein, der damit seine persönlichen Idole ehrt, darunter Sportler und Lifestyle-Gurus. 

Und schließlich wäre da noch der Bautzner Friedenspreis, der Ganser 2020 verliehen wurde. Klingt seriös? Ist es leider kein bisschen. Der Preis wird verliehen von einem nicht eingetragenen Vereins von friedensbewegten Putin-Fans. Der Verantwortliche laut Impressum war Mitorganisator der Corona-Proteste in Bautzen, unter den ehemaligen Preisträgern tummeln sich Putin-Freunde wie Eugen Drewermann, AfD Politiker wie Rainer Rothfuß, und Personen wie Lars Mährholz, denen Antisemitismus vorgeworfen wird. Manche von ihnen waren früher mal in einer Friedensbewegung aktiv. Aber sie alle eint, dass sie mittlerweile massiv abgedriftet sind und tief im Verschwörungssumpf stecken. Da passt Ganser offenbar gut rein.

Gefährliche Mischung

Ganser wird nicht müde, seine eigene Friedfertigkeit zu betonen. Es ist genau diese Mischung aus One-Love-Blabla, dem falschen Anschein von Wissenschaftlichkeit und Verschwörungsmythen, die Ganser so gefährlich machen. Denn diese Mischung verspricht einfache Zusammenhänge und die absolute Sicherheit, selbst auf der guten Seite zu stehen. Wer etwas sagt wie „Wenn die Werte Mut, Liebe und Wahrheit uns leiten, können wir uns nicht verirren”, der kann doch nicht lügen?

Warum sollte er, er will doch nur Frieden und Liebe für alle? Wenn so jemand dann sagt, dass er als „Friedensforscher“ herausgefunden habe, dass 9/11 vielleicht doch ein Insidejob war und dass vielleicht doch eher die NATO oder gar die Ukraine schuld sei am Überfall Russlands auf die Ukraine, dann muss da doch ein Funken Wahrheit dran sein? – Eine gefährliche Falle.

Screenshot von Gansers Facebook-Profil

Selbst wenn Ganser sich nicht direkt antisemitisch äußert: Wer dessen „Wahrheiten“ erst einmal erkannt hat, der ist vermutlich nur noch zwei automatisierte Youtube-Video Vorschläge oder weitergeleitete Telegramnachrichten davon entfernt, übelste antisemitische Verschwörungsmythen oder Propaganda direkt aus dem Kreml zu glauben. Denn die Grundlagen sind durch Gansers Geraune gelegt, die Anknüpfungspunkte allgegenwärtig. Wer hat denn angeblich 9/11 inszeniert? Verschwörungsmythen landen früher oder später stets bei Juden. Was so freundlich und unschuldig daherkommt, ist deswegen der Wegweiser ins Rabbit Hole der Verschwörungsmythen.

Ganser als Einstiegsdroge für Fanatiker

Den besten Beweis liefert uns dafür unabsichtlicher Weise niemand anderes als „Der Ketzer der Neuzeit”. Ein junger rechter Youtuber, der vor allem durch üble Queerfeindlichkeit und Nähe zu „Querdenken“ und rechtsextremen Reichsbürgern auffällt. In einem Interview erklärt er, von seinen Eltern an ein Video von Daniele Ganser herangeführt worden zu sein. „Also war Daniele Ganser sozusagen deine Einstiegsdroge, von deinen Eltern sogar verabreicht?”, fragt die in interviewende Verschwörungs-Verbreiterin. „Das kann man auf jeden Fall so sagen”, erwidert er. 

Screenshot Youtube

(Dieser Youtuber, das nur am Rande, ist übrigens der Typ, dem der ehemalige angebliche Oberverfassungsschützer Hans-Georg Maaßen neulich gratuliert hat. Wie problematisch das ist, hat Julius Geiler hier ausgeführt. Leonhards Mutter, die ihm das Ganser Video empfohlen hat, verbreitet übrigens nicht nur selbst Reichsbürgerpropaganda, sondern ist noch dazu Staatsanwältin. Aktuell steht sie wegen Nötigung vor Gericht. Mehr dazu hier, recherchiert ebenfalls von Julius Geiler).

Wer Ganser zuhört, greift danach zum Aluhut und marschiert mit Nazis?

Daniele Ganser also als Einstiegsdroge in die Welt der Verschwörungen, als Red Pill gewissermaßen: Wer die Welt erst einmal mit seinen Augen gesehen hat, für den ist fortan nichts mehr, wie es schien. 

Und damit zeigt sich schön, warum Ganser so erfolgreich ist: Er stellt seinen wohlklingendes, aber faktenarmes Gerede, das so nichtssagend allgemeingültig daher kommt, dass man ihm nicht widersprechen kann, als ein Alleinstellungsmerkmal dar, als genuine Positionen. Er ist der, der Wahrheit und Friede wolle Und dazu Wissenschaftler.

Dass er aber von der ganzen Wissenschaft so viel Gegenwind bekommt, muss das wohl heißen, dass die 1. nicht der Wahrheit treu sei, und 2. keinen Frieden wolle. Dass Ganser selbst falsch liegt, wird nicht mal in Betracht gezogen. Das ganze garniert mit sorgfältig herausgepickten selektiven Quellen und jeder Menge als Tatsachen oder wahlweise „Fragen“ garnierten unbelegten Behauptungen, und fertig ist die Verschwörungserzählung, der man so leicht nicht widerstehen kann.

Selfmade Verschwörungsunternehmer

Daniele Ganser ist ein schönes Beispiel für einen Selfmade Verschwörungsunternehmer. Seine ganze Inszenierung, die wir hier aufgezeigt haben – der pseudowissenschaftliche Habitus, das Wohlfühlgerede, der eigene Opfermythos: All das ist Markenzeichen und Geschäftsmodell. Daniele Ganser ist eine Marke. Als klar war, dass er mit seinem Stil an der Universität nicht weiter kommt, musste offenbar ein neues finanzielles Standbein her, und Ganser hat sich für die Selbstvermarktung und verschwörerisches Geraune entschieden.

Und, das muss man ihm lassen, das ist ihm richtig gut geglückt. Die Verkaufszahlen seiner Bücher sind beachtlich, seine Vorträge, die er quasi pausenlos gibt, oft ausverkauft. Die Ticketpreise liegen zwischen 30 und 40 Euro. Bei einer Besucher:innenzahl von tausend Personen, wie es etwa bei seinem Vortrag in Innsbruck Ende Januar der Fall war, kommt er an einem Abend also auf einen Umsatz von geeschätzt 30.000 Euro. 

Screenshot Ganser Facebook-Profil

Viel Geld zahlen, um… angelogen zu werden?

Während Corona hat er außerdem einen weiteren Geschäftszweig entwickelt, die „Daniele Ganser Community”. Der Jounalist Marko Ković hat die 365 Schweizer Franken investiert, um Mitglied, oder wie Ganser sagt „Peacemaker” zu werden. Bekommen hat er dafür nicht viel, außer ein paar eso-spirituelle Videos über den Mensch als „formloses Bewusstsein“ (Ja, so haben wir auch geguckt) und Einblicke dahinein, wie man als Verschwörunsgläubiger am besten Medien zur Situation in der Ukraine konsumiert. (Kurzfassung: Kurz lesen, was die Öffentlich-Rechtlichen sagen, dann so lange auf kremlnahen Propaganda-Seiten herumtreiben, bis man sich selbst ge-gasslighted hat, die Lügen zu glauben).

Auf einen Anruf bei dem Betreiberunternehmen „die Quelle“ habe man Ković gesagt, die Plattform habe weit über 500 Mitglieder. Er hat dann eine konservativ angesetzte Zahl von 550 Mitgliedern angenommen, woraus sich bereits ein Jahresumsatz von über 200.000 Schweizer Franken ergibt. 

How To Make Money als Verschwörungsguru

Das Verbreiten von Verschwörungsmythen dürfte also gut laufen für Daniele Ganser. Wie viele andere auch, macht er Geld damit, Quatsch zu erzählen. 

Forscher:innen der University of Oxford haben kürzlich eine Studie veröffentlicht, in der sie untersucht haben, wie es Fake-News-Verbreiter:innen zu Corona gelingt, von ihrem Einsatz finanziell zu profitieren. Die drei Kernpunkte, die die Forscher:innen herausgefunden haben, lassen sich sehr gut auf Daniele Ganser übertragen: 

  • Sich wie Prominente verhalten – die Aufmerksamkeit ihrer Followerschaft aufrechterhalten und den Eindruck einer wahrgenommenen Intimität zwischen ihnen und ihren Followern erwecken.
  • Sich wie soziale Bewegungen verhalten – Netzwerke von Online-Foren nutzen, um ihre Botschaften zu verstärken.
  • Verwenden von Taktiken, die von Junk News angewendet werden – wie eine traditionelle Nachrichtenagentur erscheinen, aber verzerrte, polarisierende Inhalte präsentieren.

Die direkte Ansprache an seine Follower:innen, das Gerede von „einer Menschheitsfamilie“, das augenscheinlich seriöse Auftreten – all das dient dazu, seine Fans zu binden – und offenbar so an ihr Geld zu kommen. 

Keine Verschwörungsmythen auf städtischen Bühnen

Eigentlich ist es ein Skandal, dass Ganser tatsächlich immer noch so ein großes Publikum anzieht und seinen Schmu auf städtischen Bühnen verbreiten darf. Gewisse Standards müssen gelten. Leuten, die erfundenen (und gefährlichen) Quatsch erzählen, sind damit ersten viel schneller und zweitens erzählen sie viel spannenderer Geschichten als die, die mühsame Quellenarbeit betreiben und Wissenschaft ernst nehmen.

Denn, machen wir uns nichts vor, gute Wissenschaft ist meistens langweilig. Deswegen ist es absolut in Ordnung, wenn städtische Veranstalter diesen Leuten keine Bühne bieten wollen. Niemand spricht von verbieten, Ganser darf natürlich weiter den Blödsinn erzählen, den er mag. Man darf gerne für 365 Schweizer Franken Mitglied in seiner Community werden, um danach schlechter Bescheid zu wissen. Aber auf einer vom Steuerzahler finanzierten Bühne müssen gewisse Qualitätsstandards und ein demokratischer Grundkonsens gelten. Aber eine Stadt muss ihm nicht auch noch buchstäblich eine Bühne für seine unseriöse Propaganda bieten.

Artikelbild: A.Savin, WikiCommons