1.560

Narrativ-Check: Panzer Liefern & Diplomatie ist kein Widerspruch

von | Jan 17, 2023 | Analyse

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wird von Wladimir Putins Propagandamaschine auch jenseits des Schlachtfelds erbittert geführt. Seit bald einem Jahr klären wir Kreml-Desinformation zum Krieg auf und setzen uns dafür ein, dass sie ihre Propaganda nicht unwidersprochen verbreiten können. Während wir oft Faktenchecks zu konkreten Lügen brachten, wollen wir mit diesem Artikel ein Narrativ widerlegen, welches gerade in der deutschen Debatte allgegenwärtig ist. Denn anders als viele glauben, ist die Forderung, Panzer für die Verteidigung der Ukraine zu liefern und auf einen diplomatischen Weg zum Frieden drängen, nicht unbedingt ein Widerspruch. Wir zeigen euch, warum.

„False Dilemma“: Eine zerstörerische Argumentationstechnik

Es gibt eine Argumentationstechnik namens “false dilemma” – also falscher Widerspruch. Dabei wird so getan, als gäbe es in einer Sache zwei Standpunkte, der eine gut, der andere schlecht und beide komplett gegensätzlich. Eng verwandt damit ist auch das “Strohmann-Argument”, bei dem der anderen Seite unterstellt wird, dass sie bestimmte Ansichten vertritt, die man dann angreift, anstatt die tatsächlichen Punkte, die dort gemacht werden. 

Beides sind enorm relevante Desinformationstechniken, und es lohnt sich im Alltag darauf zu achten, wenn sie auftreten. Damit kann man die meisten Fake News schon im Keim ersticken. Hier ein paar Beispiele:

Es stellt sich halt immer ein wohliges Gefühl ein, wenn man sich einredet, komplett im Recht zu sein, und die Gegenseite ist absolut böse. 

Debatte um Panzer wird durch false dilemma zerstört

So ähnlich verhält es sich auch im Ukraine-Konflikt. Und zwar auf beiden Seiten der Debatte. Für die einen sind alle, die Putin in irgendeiner Form einhegen wollen und Waffen an die Ukraine liefern wollen, „Kriegstreiber“, die das einfach machen wollen, weil sie Krieg so geil finden, und es gern haben, wenn tausende Menschen sterben. Auf der anderen Seite werden Menschen, die mehr diplomatische Bemühungen fordern, oft gern mit Putin-Verstehern gleichgesetzt

Das ist natürlich fatal und hilft Putin, denn unsere Fähigkeit, Debatten vernünftig zu führen, ist Teil unserer Wehrhaftigkeit als Demokratie. Deswegen will ich hier mal ein paar tatsächliche Punkte und Argumente liefern, warum Panzer und Diplomatie kein Widerspruch sind.

Verhandlungen sind keine Paartherapie

Wenn man in den sozialen Medien etwas zu “Verhandlungen” liest, klingt das immer sehr einfach: Putin und NATO müssten einfach verhandeln, aufeinander zugehen, Kompromisse machen, einander zuhören. Und schon würde der Krieg enden. Nur sind Verhandlungen zwischen Staaten keine Paartherapie, bei denen beide Parteien mit gutem Willen wieder Verständnis füreinander entwickeln und sich die Probleme dadurch in Luft auflösen. 

Leider ist Putin ein brutaler Diktator, dem Menschenleben nachweislich völlig egal sind. Das kann man schon allein daran sehen, wie er mit seinen EIGENEN Soldaten umgeht, die er in der Ukraine buchstäblich verheizt. Ganz zu schweigen von den Massakern an der ukrainischen Zivilbevölkerung, wie letzte Woche in Dnipro (Quelle). Um es mal so zu formulieren: Wären Putin Menschenleben wichtig, dann hätte er die Invasion schon lange abgebrochen. Er hätte sie nie begonnen. Ich will damit gerade NICHT sagen, dass Diplomatie hier sinnlos ist. Aber es ist recht wichtig, einen sehr klaren Blick auf die Voraussetzungen zu haben. Mit Gesprächstherapie und gutem Zureden ist hier kein Blumentopf zu gewinnen. 

Das ist ja nicht nur beim Thema Krieg so. Sondern in allen möglichen Bereichen sind Verhandlungen eben kein reiner Austausch von Nettigkeiten. Beispiel Streiks: Arbeitnehmer legen dabei gern mal das halbe Land lahm, um ihre Verhandlungsposition aufzuzeigen. Ausgerechnet jemand wie Sahra Wagenknecht müsste doch eigentlich wissen, dass man selbst Konzernbossen nicht nur mit gut Zureden beikommt. Wie soll das also mit einem Massenmörder gehen?

Verhandlungen brauchen Verhandlungsmasse

Es ist klar, dass diplomatische Bemühungen mehr brauchen als nur Worte. Im Gegensatz zu so manchem seiner Fans in Europa hat Putin das erkannt. Deshalb nutzt er ja seit 2021 schon die Gaslieferungen nach Europa, um seiner Verhandlungsposition Nachdruck zu verleihen. Die Inflation, die wir an jeder Ecke zu spüren bekommen, SIND Putins Verhandlungen MIT UNS ALLEN. Putin stoppte am 26. April die Gaslieferungen über die Pipelines durch Polen und reduzierte schon ab 2021 (vor dem Krieg!) die Pipeline-Lieferungen. Anfang September stoppte er auch Pipeline-Lieferungen nach Deutschland.

In Folge explodierten bei uns die Gaspreise und weitere, davon abhängige Preise. Die Bemühungen der Bundesregierung, von russischer Energie unabhängig zu werden, sind auch ein Versuch, Putin diese Verhandlungsmasse zu nehmen. Und es funktioniert: Durch gemeinsames Handeln vieler demokratischer Staaten kann Putin sein Öl nur noch zu einem Ramschpreis verschleudern. Der Gaspreis am Markt ist niedriger als vor dem Krieg. Währenddessen muss Putins Propaganda schon Pleiten von deutschen Firmen ERFINDEN, weil es offensichtlich zu wenig reales Material gibt: 

Dieser Teil der Verhandlungen läuft also ganz gut für uns.

Wenn die Ukraine mit Putin verhandeln soll, dann braucht sie Verhandlungsmasse. Das ist die Grundvoraussetzung für Verhandlungen. Anders machen Verhandlungen für die Ukraine überhaupt keinen Sinn. Und es ist in unserem Interesse, dass die Ukraine eine starke Verhandlungsposition hat. Warum? Weil wir wollen, dass Staaten, die in unserer Nachbarschaft Angriffskriege führen, dafür bezahlen müssen. Damit es sich nicht mehr lohnt. Um den nächsten Angriffskrieg zu verhindern. Wenn sich selbst 1000 km von uns entfernt Krieg führen Schule macht, dann bezahlen wir alle einen hohen Preis dafür. Es darf sich nicht lohnen. Putin sollte aus dem Konflikt geschwächt herausgehen, ein anderes Ergebnis wäre schlecht für uns. Und für den zukünftigen Frieden.

Panzer sind Verhandlungsmasse

Panzer müssen nicht schießen, um Fakten zu schaffen. Das merkt man unter anderem daran, dass Putin bisher die NATO nicht angegriffen hat. Der Grund: Er weiß, dass er diesen Konflikt auf konventioneller Basis unweigerlich verlieren würde. Die hohen menschlichen Kosten eines Krieges können es ja nicht sein, die ihn als Kriegsverbrecher davon abhalten. Respekt vor Landesgrenzen auch nicht. Es sind Panzer. Das muss ich als pragmatischer Pazifist einfach anerkennen.

Selbst unsere bisherige Diskussion darum, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, hat im Kreml offenbar so viel Panik ausgelöst, dass es ein großer Teil seiner Desinformationskampagne im Westen darauf verwendet, vor genau diesen Lieferungen zu warnen. 

Allein die Ankündigung, die Panzer nun zu liefern und mit der Ausbildung von ukrainischen Soldaten am System zu beginnen, dürfte zu Problemen für Putin und seine Generäle führen. Denn westliche Panzer führen dazu, dass auf absehbare Zeit das Kräftegleichgewicht in der Ukraine weiter verschoben wird. Die Ukraine bekommt dann einen dauerhaften Nachschub an westlichem Gerät, während Putins Waffenkammern immer leerer werden. Das ist allen Beteiligten klar. Die Frage ist dann: Wollen Putins Leute es darauf ankommen lassen, dass ihre Armee komplett aufgerieben wird, und sie dann niemand mehr vor den eigenen, vollkommen zurecht wütenden Bürgern schützt? Oder wollen sie es nicht lieber doch mit ernsthaften Verhandlungen probieren?

Also: Panzer sind schon Verhandlungsmasse, ohne dass sie schießen. Doch wie sieht die rechtliche Lage aus? Auch hier hat die Putin-Propaganda schlechte Karten.

Rechtliche Lage deckt Unterstützung durch Panzer ab

Auch wenn Putins Propaganda uns es vielleicht nicht glauben lassen will: Unsere (militärische) Unterstützung für die Ukraine ist völkerrechtlich gedeckt. In Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen heißt es:

Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.

UN-Charta Art. 51

Besonders wichtig ist dabei die kollektive Selbstverteidigung. Das bedeutet vereinfacht gesagt: Ein angegriffener Staat darf zur Verteidigung die Hilfe anderer Staaten erbitten und diese dürfen ihm auch helfen. Genau das ist es, was unsere Waffenlieferungen dann wären. Dass Putin hier der Agressor ist, ist offensichtlich. Schließlich sind es die Truppen seiner Armee, die die Grenzen der souveränen Ukraine ungefragt überschritten haben und dort schon lange Krieg führen. Prof. Ulrich Fastenrath, Seniorprofessor und zuvor Inhaber der Professur für öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der TU Dresden, weist darauf hin, dass Putins Definitionsspielereien hier keine Rolle spielen. Für das Völkerrecht ist es letztlich nicht relevant, ob es ein „Krieg“ oder eine „militärische Spezialoperation“ ist. Entscheidend sei demnach, ob ein „bewaffneter Konflikt“ stattfindet. Das wiederum ist nicht zu bestreiten.

Und auch der Internationale Gerichtshof, das höchste UN-Gericht sagt ganz klar und deutlich: Russland muss den Krieg in der Ukraine stoppen! Da Russland den Gerichtshof boykottiert, ist es zwar unwahrscheinlich, dass diese Feststellung direkte Konsequenzen hat. Allerdings ist sie ein weiteres Indiz dafür, dass Russland in diesem Krieg der Aggressor ist. Und wir uns auf Art. 51 der UN-Charta berufen können, was Waffenlieferungen an die Ukraine angeht. Kurz gesagt: Auch rechtlich sieht es gut aus.

Was braucht es für ernsthafte Verhandlungen

Putin zeigt bisher kein ernsthaftes Interesse an Verhandlungen. Bereits vor dem Krieg waren westliche Staaten zu Zugeständnissen an Putin bereit, um den Krieg abzuwenden, beispielsweise wurde andauernd betont, dass ein NATO Beitritt der Ukraine keine Option ist.

Es gab sehr viele Gespräche mit russischen Offiziellen und Putin selbst vor und während der Invasion, wir haben das hier dokumentiert. Genutzt hat es bisher sehr wenig. 

Putin-Versteher verbreiten seit Monaten das Gerücht, dass Boris Johnson angeblich durch Druck auf Kyiv die Verhandlungen torpediert hat. Doch dem widerspricht die einzige “Quelle” für diese Behauptung, der Journalist Roman Romaniuk. Der Journalist sagte, Johnson habe darauf hingewiesen, dass Putin nicht zu vertrauen sei. Selensky hätte das geteilt, da er zu Johnson ein Vertrauensverhältnis und selbst ähnliche Bedenken hatte. Von Druck keine Spur. Abgebrochen wurden die Istanbul-Gespräche auch deswegen, weil ein solches Abkommen territoriale Zugeständnisse an Russland erfordert hätte und das der ukrainischen Bevölkerung angesichts der Massaker in Butscha nicht zu vermitteln gewesen wäre. Statt darauf einzugehen, wurden im September von Putin sogar weitere Gebiete für annektiert erklärt.

Wie mit Putin verhandeln, wenn er nur erpresst?

Putin bombardiert aktuell die Zivilbevölkerung in der Ukraine. Militärisch hat das wenig Sinn, es geht ausschließlich um Zermürbung, Psychoterror und Sieg mit roher Gewalt. Putins Forderungen kommen nach wie vor einer Kapitulation der Ukraine und der Abgabe von Souveränität und Selbstbestimmung gleich. Beispielsweise fordert Lawrow nach wie vor eine Abgabe von einem Fünftel des ukrainischen Territoriums an Russland. Dabei wird nicht viel “verhandelt”, sondern die russische Führung sagt: Erfüllt das, oder wir morden weiter.

Es ist also relativ klar, dass Putin territoriale Zugeständnisse erpressen will, um die Invasion als Erfolg zu verkaufen. Auch Zusicherungen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, haben ihn nicht vom Einmarsch abgehalten. Putin muss überzeugt werden, dass diese Erpressung nicht funktionieren wird.

Auch die Ukraine braucht für ernsthafte Verhandlungen sinnvolle Sicherheitsgarantien. Die Ukraine hat völlig zu Recht Angst, dass Russland sich ein paar Jahre erholt und dann erneut angreift. Eine Möglichkeit von solchen Garantien wäre natürlich ein NATO-Beitritt der Ukraine, der sie sehr effektiv vor weiteren Angriffen schützen würde. Wer das nicht will, muss erklären, wie sich die Ukraine im Falle eines erneuten russischen Angriffs selbst verteidigen kann. Das schreibt auch das United States Institute for Peace:

“To be sure it will be secure in the future, Ukraine either needs to be accepted into NATO or it must be fully able to defend itself.“

Quelle: United States Institute for Peace

Die Ukraine muss künftige russische Aggression abschrecken, entweder mit einem entschiedenen Sieg jetzt gegen die russische Armee, oder mit einem entsprechend starken Militär. Lediglich sich auf unterschriebene Zettel zu verlassen reicht nicht mehr aus, denn Russland hat bereits in den 90ern im Budapester Memorandum zugesagt, die Ukraine nicht anzugreifen. Das wird bereits seit 2014 verletzt. Das sagt auch der Chefberater von Präsident Selensky:

Panzerlieferungen könnten Diplomatie erst möglich machen

Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Putin braucht Argumente, warum der Krieg nicht zu gewinnen ist. Beides wird durch die Ankündigung, moderne Panzer in großer Zahl zu liefern, erfüllt. Die Ukraine bekommt damit die Verhandlungsmasse, damit Putins Invasion nicht zu einem Erfolg wird. Außerdem sind moderne Panzer gleichzeitig Sicherheitsgarantien für die Zeit nach den Verhandlungen. 

Die Alternative ist ein jahrelanger Abnutzungskrieg ohne klaren Sieger, in dem keine der beiden Seiten ihre Bedingungen für ein Ende der Kampfhandlungen erfüllt bekommt. Eine Pattsituation ist kein sinnvolles Ende des Krieges, sondern wird Ursache für jahrelanges Leid und noch viel mehr Tote sein.

Es ist ehrenwert und bewahrenswert, dass in Deutschland so lange wie möglich versucht wird, Konflikte friedlich zu lösen. Aber Putin denkt schon lange nicht mehr nach dieser Logik. Wir müssen der Ukraine Verhandlungsmasse liefern, die in SEINER Logik wirkt. Erst wenn die Ukraine sich selbst verteidigen kann, wird ernsthafte Diplomatie möglich.

Artikelbild: Armin Weigel/dpa