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Dreiste AfD-Propaganda: Keine 43 „Messer-Taten“ am Wochenende!

von | Dez 11, 2019 | Aktuelles, Analyse

Faktencheck dieser AfD-Propaganda!

Nach den medial viel beachteten Fällen von Augsburg und insbesondere München nutzte die AfD die Aufregung ihrer Anhänger*innen aus und stellte die Behauptung auf, dass „am Wochenende“ „43 Messer-Taten“ begangen worden seien, darunter vier „Messer-Morde“. Sie paart diese Feststellung mit einem Vorwurf, dass „die Politik“ nichts dagegen unternehmen würde. Im Text wird unterstellt, dass dies ungewöhnlich sei und an „jungen Männern“ liege, die „auf Kosten der Gesellschaft“ leben. Sie behauptet im Subtext also, dass „Migranten“ bzw. „Flüchtlinge“ für die „Messer-Taten“ verantwortlich wären.

Die zentralen Aussagen sind also folgende:

  • Am Wochenende (7./8.12.2019) hätte es 43 „Messer-Taten“ gegeben & dies sei ein Beispiel von „eskalierter Gewalt“
  • Die Anzahl dieser Straftaten sei ungewöhnlich („Messer-Epidemie grassiert“)
  • Dafür seien „Migranten“ und „Flüchtlinge“ verantwortlich

Rein gar nichts davon stimmt auch nur im Ansatz

Die AfD hat in diesem Beitrag so viel gelogen und falsch dargestellt, dass man das gar nicht alles auf einmal debunken kann. Doch fangen wir mit der zentralen Aussage an: Gab es am Wochenende 43 „Messer-Taten“? Nein. Der Ursprung der AfD-Aussage ist ein „Wochenblick“-Artikel. Dabei handelt es sich um ein stark kritisiertes, österreichisches Medium, das ideologisch der FPÖ nahe steht. Redakteure sind für FPÖ-Organisatoren tätig. Das Medium hat bereits öfter Fake News und Verschwörungstheorien verbreitet, wurde wegen übler Nachrede verurteilt und wurde zudem mehrfach vom Österreichischen Presserat gerügt. Über das Magazin sagte dieser: „Mit professionellem und verantwortungsvollem Journalismus [haben ihre Artikel] nichts gemein“.

Im betreffenden Artikel wurde die (absolut falsche) Behauptung wiederholt, dass Deutschland „Tag für Tag mehr in brutalster Messergewalt zu versinken“ drohen würde und dann wurden 43 Vorfälle aufgezählt. Wir haben alle 43 Vorfälle überprüft. Das Ergebnis ist eindeutig.



Über die Hälfte aller Fälle war gar nicht am Wochenende!

Für „Wochenblick“ und auch der AfD ist „Wochenende“ wohl ein sehr dehnbarer Begriff, denn man suchte „Messer-Taten“ zwischen Donnerstag und Montag. Doch sogar dieser Anspruch scheiterte, denn zwei weitere Fälle liegen sogar noch weiter in der Vergangenheit. So kommt es, dass 1 Fall vom Mittwoch ist, 9 vom Donnerstag, 10 vom Freitag, drei von Montag und ein Fall ebenfalls Mittwoch oder vielleicht sogar noch früher. Am eigentlichen „Wochenende“ lagen somit nur 19 der aufgezählten Fälle. Dass ein Wochenende fünf Tage dauern soll ist nicht nachvollziehbar.

Unter den 19 Fällen vom echten Wochenende sind zwei getötete Frauen, zwei schwer verletzte Personen, 4 leicht verletzte Personen, 7 Raubüberfälle, bei dem ein Messer zur Drohung genutzt wurde und vier weitere Drohungen mit Messern. Beim verbliebenen Vorfall handelt es sich sogar nur um den Fall, als ein 15-jähriger bei einer Kontrolle mit einem Einhandmesser erwischt wurde, was gegen das öffentliche Führverbot verstoß. Hier merkt man bereits, wie sehr das Wort „Gewalt“ bei diesem „Messer-Taten“ gestreckt wird. Letztlich bleiben von den 43 Fällen lediglich 8 Fälle, die wirklich am Wochenende stattfanden und bei dem ein Messer aktiv als Tatwerkzeug einer Gewalttat verwendet wurde.

Darunter sind aber auch folgende Vorfälle: Eine Prügelei mehrerer 15-jähriger, bei welchem sich einer eine leichte Schnittverletzung am Arm zuzog oder ein Streit zweier alkoholisierter Arbeitskollegen, bei welchem einer den anderen mit dem Messergriff (!) einen Schlag versetzte. Die zwei getöteten Frauen sind einmal der Fall aus Stuttgart, in welchem ein Mann scheinbar grundlos eine 77-jährige auf offener Straße nieder stach und einmal ein Fall aus Lörrach, als ein Nachbar seine Nachbarin umbrachte. Bei beiden ist die Staatsangehörigkeit nicht genannt.

Nicht-Deutsche?

Die AfD hat das Wort „Migranten“ oder „Flüchtlinge“ nicht wörtlich erwähnt, mit „jungen Männern“, die „auf Kosten der Gesellschaft“ leben, jedoch selbstverständlich genau jene gemeint. Es ist Teil ihrer Strategie, weil sie genau weiß, dass der Großteil aller Straftaten eben nicht von jenen begangen wird und sie somit nicht direkt lügt. Ihren Anhänger*innen ist jedoch klar, worum es geht. Auffällig ist jedoch, dass in 41 Fällen die Nationalität der Täter*innen nicht genannt wurde. Das hat auch gute Gründe:

5 gute Gründe, die Nationalität* eines Tatverdächtigen zu ignorieren

Lediglich in zwei Fällen wurde die Nationalität genannt:

Bei Syrern und einem Iraker. Ein alkoholisierter Iraker bedrohte im Streit seine Ehefrau mit einem Messer am Samstag, am Donnerstag bedrohte ein psychisch kranker Syrer einen anderen Syrer. In einem dritten Fall war es ein Streit unter zwei 18-jährigen Bewohner in einem Asylbewerberheim, bei dem es zu einer Schnittverletzung kam. Die Polizei ermittelt wegen Verdachts des versuchten Totschlags. In allen drei Fällen waren jedoch auch die Opfer Nicht-Deutsche. In keinem einzigen Fall der 43 wurde eine deutsche Staatsbürgerschaft genannt.

Dass nur ausländische Staatsbürgerschaften genannt werden, sollte ein erster Hinweis sein, dass diese überproportional oft erwähnt werden. In der Regel werden grundsätzlich keine Nationalitäten genannt, bei Lokalmeldungen ohnehin nicht. Doch wie eine aktuelle Studie zeigt, wird in Medien die Nationalität von Nicht-Deutschen 19-mal häufiger erwähnt als ihr Anteil an den Tatverdächtigen in Wahrheit ausmacht. Also heißt das meistens: Wird keine Staatsangehörigkeit erwähnt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie „irrelevant“ ist – weil der Täter Deutscher ist.

Studie: Presse nennt „ausländische“ Tatverdächtige überproportional oft – nicht weniger!

Vier Täterbeschreibungen beziehungsweise Augenzeugenberichte erwähnen „südländisches“/“ausländisches“ Aussehen, „dunklen Teint“ oder „Akzent“, doch das lässt selbstverständlich keine Rückschlüsse auf Nationalität oder Herkunft zurück und ist gleichermaßen nichtssagend wie subjektiv. Drei Fälle beschreiben die Täter mit „blauen Augen“ und zweimal mit „hochdeutschem“ Akzent. Letzteres einer derjenigen, der getötet hat. Bei den übrigen zwei Tötungsdelikten handelt es sich um einen Sohn, der seine Mutter erstochen hatte (wann ist unklar, früher als Donnerstag auf jeden Fall), und einen Mann, der am Freitag seine Ex-Freundin erstach.

Zwischenfazit

Von allen 43 Fällen waren also 14 Raubüberfälle und Versuche, bei denen ein Messer zur Drohung verwendet wurde und 11 Drohungen (und 1 illegales Mitführen). Somit sind bei über der Hälfte aller Fälle (26) keine Personen (zumindest durch Messer) zu Schaden gekommen. Die Unterstellung der AfD, es handele sich um „Schutzsuchende“ oder „junge Männer“ kann nicht bestätigt werden. In den einzigen Fällen, in denen Schutzsuchende als Tatverdächtige bestätigt waren, waren andere Schutzsuchende auch Opfer.

In fast allen Fällen spielt die Herkunft der Täter keine Rolle und viele Fälle sprechen dagegen, dass es Nicht-Deutsche waren. In einem Fall zum Beispiel bedrohte ein 54-jähriger Busfahrer störende Schüler mit einem Messer. Sechs Fälle waren Konflikte zwischen (Ex-)PartnerInnen (davon ein Femizid), drei weitere Fälle waren Familienstreitigkeiten.

Zwischenfazit: Die meisten der Fälle fanden weder an nur einem Wochenende statt, sondern mindestens in einem Zeitraum von einer Woche, in mehr als die Hälfte der Fälle waren lediglich Messer involviert, ohne je tatbeteiligt gewesen zu sein. Die meisten Tatverdächtigen sind keine „Migranten“ oder „Schutzsuchende“. Die AfD versucht, indem sie alle diese Fälle zu „Messer-Taten“ zusammenfasst und Flüchtlingen andichtet, zusammen mit manipulierenden Begriffen wie „Messer-Epidemie“ ein völlig realitätsfremdes Bild zu zeichnen. Ein 15-jähriger, der unerlaubt ein Messer mit sich herum getragen hat, erfüllt diese Hysterie eher nicht. Die Fälle sind also künstlich aufgebläht, da viele Fälle in die Definition mit hinein gebogen werden und indem das „Wochenende“ auf eine ganze Woche gedehnt wird.

Unsicher? Nicht normal?

Kommen wir zum interessanteren Punkt: Sind 14 Raubdelikte mit Messern ungewöhnlich? Das „Tatmittel Messer“ – und das kann sich auch einfach das Mitführen beziehen – wird in den Statistiken nicht gesondert erfasst, deswegen sind alle Behauptungen, dass diese zugenommen hätten schlicht gelogen (mehr dazu). 2018 gab es laut PKS 36.756 Raubdelikte. Das sind 100 jeden Tag! Straftaten gegen das Leben gab es 2.471 – das sind sechs jeden Tag. Nicht nur an jedem beliebigen „Wochenende“, sondern jeden Tag müsste sich also ein Tötungsdelikt finden. Einen Mord gibt es im Schnitt jeden Tag in Deutschland.

Der Autor des Artikels und die AfD verspotten angesichts dieser Statistiken die Vorstellung, Deutschland könne „sicher“ sein, oder gar „eines der sichersten Länder der Welt“. Hier muss es sich um gezielte Täuschung ihrer Leserschaft handeln, denn mit diesen Zahlen ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt. In Deutschland gibt es heute 0,6 Tötungsdelikte auf 100.000 Einwohner. In Venezuela sind es 62, in El Salvador 60 (Quelle). Und mit 2,471 Tötungsdelikten im Jahr 2018 ist Deutschland historisch so sicher wie nie! Auch die allgemeine Zahl der Straftaten ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung.

Nimmt man die Sterblichkeitsrate durch Kriminalität (Quelle) zu Hand, lag sie Anfang des Jahrhunderts bei Männern bei ca. 2,5 bis 3,0 pro 100.000 Einwohner. Anfang der 1990er Jahre gab es noch circa 5000 Straftaten gegen das Leben. Bis heute hat sich diese Zahl halbiert – obwohl die Einwohnerzahlen sogar noch gestiegen sind. Fakt ist also: Deutschland ist so sicher wie noch nie. Die meisten Menschen werden nur mit den meisten Straftaten überhaupt nie konfrontiert. Man könnte so eine Liste also problemlos auch für das zweite Adventswochenende 2014 anstellen, wenn man denn wollen würde. Mehr dazu:

Augsburg: Strafrecht-Prof widerspricht AfD: Deutschland so sicher wie nie

Lügenpropaganda der AfD

Deutschland ist so sicher wie noch nie, Schutzsuchende und „Migranten“ machen das Land auch nicht unsicherer als der Rest der Einwohner*innen (tatsächlich ist es sogar so, dass anerkannte Asylbewerber dreimal weniger kriminell sind als junge Deutsche, mehr dazu). Der AfD hilft es auch nicht, wenn irreführende Statistiken falsch verzerrt werden, wie hier:

Bei Zuwanderern verzählt, bei Kriminalität verrechnet: Nicht nur Rechte stolpern über BKA-Statistik

Die Lügenpartei AfD hat also versucht, ihren Wähler*innen mit ein paar verzerrten Einzelfällen von „Messer-Taten“ und Falschdarstellungen Angst einzujagen, indem sie so tut, als wäre diese Auflistung von Fällen nicht nur viel gravierender als sie tatsächlich war, sondern auch noch ungewöhnlich und de facto sogar schlimmer als in vergangenen Zeiten. Damit nutzt sie den „availability bias“ ihrer Anhängerschaft aus. Vor 30 Jahren haben es die meisten Meldungen, auch Tötungen, nicht einmal in die Zeitungen geschafft – und wenn, dann in regionale Ausgaben, so dass die meisten Menschen nie davon erfahren haben.

Durch das Internet und Parteien (und Medien), die gezielt Einzelfälle suchen und aufbauschen, kann so ein völlig realitätsfernes Bild gezeichnet werden. Wenn dabei auch noch der Großteil der Straftaten, an denen Deutsche schuld sind, ignoriert werden und nur diejenigen instrumentalisiert, bei denen „Nicht-Deutsche“ beteiligt waren (oder denen man irgendwie ihr Deutschsein absprechen kann wie in Augsburg oder München), dann manipuliert man gezielt die Weltanschauung dieser Menschen. Fälle wie beispielsweise Göttingen wurden von der AfD erstaunlicherweise nie erwähnt:

Zwei Frauen ermordet: Die AfD will dir diese Messer-Morde verschweigen

Lasst euch nicht aufhetzen

Es ist höchst bedauerlich, dass eine in großen Teilen faschistische Partei derartige Lügen, Verzerrungen und Propaganda verwendet, um ein exakt gegenteiliges Bild der Realität zu zeichnen. Deutschland ist so sicher wie noch nie, und der gewaltige Großteil aller Schutzsuchenden ist niemals kriminell geworden. Tatsächlich sind anerkannte Asylbewerber sogar unterdurchnittlich kriminell. Die AfD kombiniert das mit dem Lügennarrativ von 2015 (mehr dazu) und einer eigenwilligen Interpretation von „Deutschsein“, das mehr mit dem Arierausweis gemeinsam hat als mit dem Grundgesetz (mehr dazu).

Doch die Realität sieht anders aus. Die Statistik relativiert nicht das Unrecht einer einzigen Straftat. Jede*r Tote*r ist zu viel. Sie rückt aber das von Rechtsextremen und Boulevard-Medien verzerrte Bild der Gesamtlage zu Recht. Die AfD nutzt emotionalisierte Einzelfälle, die als „Beweise“ ihrer Propaganda gelten sollten. Selbst wenn die Fälle wie Augsburg und München – in beiden Fällen in Deutschland geborene, deutsche Täter! – schon logisch nichts mit 2015 zu tun haben können. Die „43 Messer-Taten“ sind nur ein weiteres Puzzleteil dieser Propaganda.

Artikelbild: pixabay.com, CC0