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Das Patriarchat – wie lange gibt es das schon? Eine Expertin klärt auf

von | Aug 28, 2023 | Analyse

Archäologie ist nicht gleich Archäologie

Damit kommen wir doch direkt mal zur Frage, wie lange sich die Menschheit eigentlich schon mit diesem spezifischen Problem, also dem Patriarchat, herumschlägt. Die Antwort darauf fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt, aber im Grunde genommen rangieren die möglichen Antworten von „seit Beginn der Menschheit“ bis zur Industrialisierung und noch später. Kann man es wirklich sagen, wann das Patriarchat seinen Anfang genommen hat? Nicht wirklich, nein.

Ändert das was daran, dass es falsch ist, einen Teil der Bevölkerung systemisch zu benachteiligen? Ebenfalls nein. Systemische Benachteiligung ist grundsätzlich falsch. Leider gibt es aber nicht wenige Leute, die bei dem Thema gerne darauf verweisen, dass es ja eine Art „naturgegebener Zustand“ sei, wie unsere moderne Gesellschaft biologisches Geschlecht bewertet und Aufgaben verteilt – und viel wichtiger, wie sie diese Aufgaben bewertet. Wir wissen alle, dass Frauen immer noch den Löwenanteil der Kinderbetreuung bewältigen, weniger Lohn bekommen und, wenn sie sich im gebärfähigen Alter befinden, auch mal einen Job nicht bekommen, weil der Arbeitgeber davon ausgeht, dass eine Frau, die Kinder bekommen kann, auch Kinder bekommen wird.

Das sind alles aktuelle Probleme. Trotzdem werden – mal zur Rechtfertigung des status quo, mal um auf die lange Geschichte der Benachteiligung von Frauen und/oder Nicht-Männern hinzuweisen – immer wieder prähistorische Kulturen zitiert, mal mit dem Hinweis darauf, dass man ja schon in diesen prähistorischen Kulturen sehen könne, dass diese Aufgabenverteilung „natürlich“ sei, mal mit der Schlussfolgerung, dass sich die Unterdrückung von Frauen ja bereits vor x-tausend Jahren nachweisen ließe. Die Frage ist nur: kann man überhaupt anhand von prähistorischen Funden Aussagen dazu treffen, ob es andere Vorstellungen von Gender oder eine gesellschaftliche Struktur wie das Patriarchat in schriftlosen Kulturen gab? Anders formuliert: War die Steinzeit patriarchalisch? Oder waren in der Steinzeit alle Menschen genderfluid?

Ja – und ja.

Aber auch nein und nein.

Kurze Begriffsklärung

Bevor wir uns dem Thema im Detail zuwenden: Auch wenn es manchmal so scheinen mag, Archäologen beschäftigen sich nicht nur mit Griechenland und Ägypten. Sowieso sind Ägypten und Griechenland keine besonders tollen Beispiele für prähistorische Kultu-
ren, denn das Wort „prähistorisch“ bedeutet „vorgeschichtlich“ – also vor Beginn der Geschichtsschreibung. Ägypten hat Hieroglyphen, die Griechen das griechische Alphabet – beide Kulturen haben eine Schrift und ausreichend schriftliche Quellen, um geschichtlich relevante Informationen zu übermitteln und damit sind sie keine prähistorischen Kulturen mehr – zumindest nicht mehr in dem Zeitraum, an den die meisten Menschen sofort bei „Ägypten“ und „Griechenland“ denken. Dass Archäologen sich trotzdem mit ihnen beschäftigen, liegt daran, dass Archäologie sich mit den materiellen Hinterlassenschaften von Menschen, Historiker und Philologen (Sprach-, Text- und Literaturwissenschaftsforschende) sich dagegen mit den sprachlichen Quellen auseinandersetzen. Und ein Tempel, auch wenn die Wände voller Hieroglyphen sind, ist halt nun mal ein materielles Denkmal, für das Archäologen zuständig sind.

Aber Archäologen arbeiten auch mit Kulturen, mit denen Historiker und Philologen sich eher weniger anfangen können, weil es keine schriftlichen Quellen gibt, die sie für ihre Arbeit bräuchten. Tatsächlich hört die Prähistorie hier bei uns in Deutschland erst in der Karolingerzeit (751 bis ins frühe 11. Jahrhundert, je nachdem, welchen Teil man sich anschaut) auf, in Skandinavien dauert es sogar noch länger, bis ausreichend schriftliche Quellen vorhanden sind, um von „Geschichte“ und nicht mehr „Vorgeschichte“ sprechen zu können – bis nach der Wikingerzeit, also etwa um 1100 herum. Die Grenze ist dabei nicht immer ganz exakt zu ziehen, weil durchaus schriftliche Quellen existieren können – die Raubzüge der Wikinger haben so einige schriftliche Spuren hinterlassen. Aber diese sind nicht von den Betreffenden selbst geschrieben worden, weshalb es für diesen Zeitraum den Begriff „Frühgeschichte“ gibt – eine Zeit, in der schon schriftliche Quellen existieren, die aber sehr wenig Informationen hergeben (das wären in diesem Fall Runeninschriften) und/oder nicht von Angehörigen der betroffenen Kultur selbst verfasst worden sind.

Deshalb heißen diverse archäologische Institute in Deutschland auch „Institut für Vor-/Ur- und Frühgeschichte“, im Unterschied zu Instituten für „Klassische Archäologie“, die sich mit der „klassischen“ Zeit beschäftigt – Griechen und Römern. In allen diesen Instituten arbeiten Archäologen, aber ihre Fachgebiete, Schwerpunkte und Methoden unterscheiden sich.

Worum es hier geht

In diesem Artikel geht es also nicht um historische Kulturen, über deren gesellschaftliche und soziale Verhältnisse wir anhand von schriftlichen Quellen Aussagen treffen können. Alles, was im Nachfolgenden steht, bezieht sich explizit auf vor-schriftliche, also tatsächlich „prä“-historische Kulturen. Sobald eine Kultur anfängt, Schrift zu benutzen, gibt es mehr als rein archäologische Quellen, die über tatsächliche gesellschaftliche und soziale Verhältnisse Auskunft geben können. Durch Rechtstexte, Erzählungen und selbst Rechnungen werden Rückschlüsse auf andernfalls unsichtbare Strukturen möglich, die rein materielle, archäologische Quellen nicht liefern. Dieser Text konzentriert sich aber bewusst auf die Quellen, mit denen oft argumentiert wird, um in prähistorischen, vor-schriftlichen Kulturen patriarchale Strukturen oder das Patriarchat selbst nachzuweisen. Denn auch wenn bei der Arbeit mit schriftlichen, historischen Quellen Vorsicht und methodische Sorgfalt geboten ist, um ihre Zuverlässigkeit zu beurteilen, sind archäologische Quellen eine andere Nummer und ihre Aussagekraft anders zu beurteilen als die schriftlicher Quellen.

Und darum soll es hier gehen: Um die Zuverlässigkeit (prähistorischer) archäologischer Quellen in Bezug auf unsichtbare gesellschaftliche Strukturen wie Vorstellungen von Geschlecht und das Patriarchat.