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Das Patriarchat – wie lange gibt es das schon? Eine Expertin klärt auf

von | Aug 28, 2023 | Analyse

Fazit

Womit lässt uns das also zurück? In erster Linie damit, dass es schwierig ist, moderne Konzepte auf prähistorische Gesellschaften zu übertragen, auch wenn die Versuchung groß ist. Und ich bin mir wohl bewusst, dass jetzt einige bestimmt frustriert sind, weil ich hier ankomme und sage, „wir können überhaupt nicht nachweisen, dass Frauen wirklich schon seit Tausenden von
Jahren unterdrückt werden“.

Stimmt. Das ist genau das, was ich gesagt habe.

Was ich aber auch gesagt habe, ist, dass wir nicht so ohne Weiteres sagen können, wie lange das Patriarchat bereits existiert, weil wir zu wenig darüber wissen, wie die tatsächlichen gesellschaftlichen Strukturen innerhalb der infrage stehenden prähistorischen Kulturen ausgesehen haben. Jemand, der also argumentiert, dass das Patriarchat, Geschlechtsdimorphismus und strikte Aufgabenverteilung zwischen zwei biologischen Geschlechtern richtig sind, „weil es schon immer so war“, muss dafür also bitte erst mal Beweise bringen. Die Pflicht, die eigene Meinung zu begründen, funktioniert auch in die andere Richtung, nicht nur in die „beweis mir erst mal, dass es das Patriarchat damals nicht gab“.

Nein. Beweis du mir erst mal, dass es das gab. Und ich möchte bitte handfeste, nachprüfbare Beweise dafür haben, keine Abbildungen in Schulbüchern oder die Aufsätze eines Forschers aus den 1970ern. Und auch keine Argumentation, dass Frauen ja schließlich schwanger werden und deshalb gar nicht auf dem Feld arbeiten können. Das ist lächerlich, schwangere Frauen auf der ganzen Welt tun das bis heute, sogar in Deutschland, und nicht nur in Bürojobs. Die nennt man Bäuerinnen. Einige sind jetzt vielleicht auch versucht, das ganze komplett umzudrehen und davon auszugehen, dass alle prähistorischen Kulturen nicht-binäre Vorstellungen von Geschlecht und egalitäre Gesellschaftsstrukturen hatten. Kann ich verstehen, wäre ausgleichende Gerechtigkeit und ist als Gedankenexperiment eine extrem gute Übung, um das eigene Weltbild zu hinterfragen.

Als kategorische, neue Grundannahme für die Archäologie? Eher schwierig. Brächte uns das der Wahrheit näher? Wüssten wir dadurch tatsächlich mehr darüber, wie die prähistorischen Menschen das gesehen haben? Oder machten wir damit im Endeffekt nur genau dasselbe wie die Forscher, die Patriarchat interpretieren, weil sie sich nichts anderes vorstellen können? Indem wir der prähistorischen Kultur unsere Wunschvorstellung davon überstülpen, wie wir gerne hätten, dass unsere heutige Gesellschaft funktioniert? Wir werden „die Wahrheit“ nie erfahren. Wenn es überhaupt eine Wahrheit gibt, eine prähistorische Kultur besteht ja immer noch aus vielen einzelnen Menschen, von denen alle ihre eigene Wahrheit gehabt haben können. Ein besserer Ansatz wäre vielleicht, nicht immer zu versuchen, „die eine Wahrheit“ zu finden. Anzuerkennen, dass wir viel wissen und viel eben auch nicht wissen. Und die Prähistorie vielleicht einfach auch mal Vorgeschichte sein zu lassen.

Denn ganz davon abgesehen, dass einfach weder das eine noch das andere faktisch zu beweisen ist: ob es das Patriarchat seit dem Mesolithikum, Neolithikum, der Bronze-, Eisen-, Merowinger-, Karolingerzeit oder Mittelalter oder Neuzeit gibt, ist nur dann relevant, wenn man die Geschichte des Patriarchats erforscht. „Aber das gab es doch schon immer“ ist kein akzeptables Argument, wenn es um die systemische Benachteiligung bestimmter Gruppen geht.

Es ist mehr als frustrierend, dass es nach wie vor Menschen gibt, die nicht in der Lage sind zu verstehen, dass andere Menschen auch ein Recht darauf haben, so zu leben und zu sein, wie sie leben und sein wollen. Nur glaubt mir einfach, wenn ich das jetzt
sage: Diese Leute würdet ihr auch nicht überzeugen, wenn ihr 100 % sichere, bombenfeste Beweise dafür beibringen könntet, dass die Germanen nicht-binäre Vorstellungen von Geschlecht hatten und Kindererziehung Männersache war. Das könnte ihnen ein mit der Zeitmaschine hertransportierter Germane (mit entsprechendem Übersetzungsgerät) ins Gesicht sagen und sie würden ihn die „Ausnahme von der Regel“ nennen. Weil es diesen Menschen nicht darum geht, was tatsächlich gewesen ist. Archäologie ist für sie nur ein weiteres Mittel zum Zweck, um sie in ihrem Weltbild zu bestätigen, nichts mehr.

Dieser Artikel hat euch keine Fakten geliefert, um diese Menschen zu widerlegen, ich weiß. Hoffentlich hat er aber dazu beitragen können, zu erklären, warum die handfesten Beweise eben nicht so handfest sind, wie diese Menschen glauben. Hoffentlich hat er euch ein paar Werkzeuge an die Hand geben können, um die Aussagen dieser Menschen so zu hinterfragen, dass bei Zuschauern Zweifel daran aufkommen, dass sie wirklich recht haben mit ihrer binären Interpretation. Normalerweise heißt es „Wissen ist Macht“. Aber gerade in den Geisteswissenschaften würde ich sagen, bewusstes Nicht-Wissen ist auch eine wichtige Waffe. Denn wenn wir uns darüber im Klaren sind, was wir nicht wissen und vor allem, was wir nicht wissen können, wird es schwieriger, uns mit einfachen Erklärungen zufriedenzugeben.

Dementsprechend, wenn euch das nächste Mal jemand zu erklären versucht, dass strikte Aufgabenteilung nach biologischem Geschlecht schließlich der natürlich Zustand der Dinge ist, wie schon prähistorische Kulturen beweisen – fragt diese Person doch einfach mal, ob diese Aussage auf archäologischer, osteologischer oder Geschlechtsbestimmung über aDNA-Analyse getroffen wurde. Und ob sie eigentlich schon testamentarisch verfügt haben, was auf ihrem Grabstein stehen soll, damit sich Archäologen in 3000 Jahren ein zutreffendes Bild von ihrer Identität machen können. Mit 500-seitiger, gegen Wind, Wetter, Würmer, Verrottung, Feuer und andere Einflüsse geschützter Abhandlung darüber, wer sie gewesen sind, an was sie geglaubt und in welcher Art von Gesellschaft mit welchem Wertesystem sie gelebt haben.

Und fragt dasselbe auch die Person, die genau das Gegenteil behauptet.

Literaturempfehlung: Herrmann, B. u. a. (1990). Prähistorische Anthropologie. Leitfaden der Feld- und Labormethoden. Berlin u.a.: Springer, 445.

Artikelbild: canva.com