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Das Patriarchat – wie lange gibt es das schon? Eine Expertin klärt auf

von | Aug 28, 2023 | Analyse

Patriarchale Strukturen in der Forschung

Wie sind wir überhaupt an den Punkt gekommen, an dem einseitige Vorannahmen so großen Einfluss auf die finale Interpretation haben?

Indem wir selbst in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind. Ein Problem, mit dem die Archäologie als Fach zu kämpfen hat, ist die Tatsache, dass Frauen lange keine Archäologinnen waren oder zumindest nicht als solche ernst genommen wurden.

Johanna Mestorf, die 1891 zur Direktorin des Museums vaterländischer Alterthümer berufen wurde, war die erste Frau in Deutschland, die Direktorin eines Museums wurde und die aktiv vorgeschichtliche Kulturen in Schleswig-Holstein erforscht hat. Wenn man sich mal auf Wikipedia die Liste bekannter Prähistoriker anschaut, dann wird schon sehr offensichtlich, dass Männer klar in der Überzahl sind.

Eine Umfrage, die 2021 von der Organisation Early Career Archaeologists, einer Unterorganisation der European Association of Archaeologists durchgeführt wurde, zeigt, dass gerade Frauen und andere marginalisierte Gruppen immer noch überdurchschnittlich stark von Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz betroffen sind (eine Erfahrung, welche von der Verfasserin geteilt wird) – was dazu führen kann, dass sie eher ihre archäologische Karriere aufgeben, als sich dem weiter auszusetzen.

Konsequenzen

Das wirkt sich natürlich auch auf die Auswertung von Forschungsergebnissen aus. Die eigene Weltsicht, der eigene Erfahrungshorizont, hat immer Auswirkungen auf die eigene Forschung. Ganz blöd gesagt, viele Archäologen des 19. und auch noch eine gute Weile im 20. Jahrhundert konnten sich nicht vorstellen, dass prähistorische Kulturen eventuell Wertesysteme gehabt haben, die nicht irgendwie doch patriarchalisch waren oder zumindest eine strikt am biologischen Geschlecht orientierte Aufgabenverteilung hatten, weil sie es selbst nicht anders kannten.

Zwar ist die Herangehensweise, die eigene Subjektivität aufs Korn zu nehmen und das eigene Weltbild zu hinterfragen, bevor man anfängt zu forschen, heute zentral für die meisten Forscher vor allem in den Geisteswissenschaften, zu denen die Archäologie ja auch gezählt wird.

Das ist aber eine relativ neue Idee, die gerade in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich als Grundsatz aufgenommen wurde, nachdem man festgestellt hatte, dass es keine gute Idee ist, Forschung in den Dienst einer Ideologie zu stellen. Auch die Ausgrabungstechnik und vor allem die -dokumentation hat sich seitdem stark verändert. Trotzdem müssen Archäologen natürlich mit dem arbeiten, was schon vorhanden ist. Wissenschaftlich ist es nicht zu verantworten, alle Ausgrabungen vor 1950 zu ignorieren, weil die Interpretation des damaligen Ausgräbers von einer bestimmten Ideologie geprägt sein könnte. Man muss das im Hinterkopf haben und das Material und die Dokumentation mit aller gebotenen Vorsicht durchsehen.

Aber man kann eben nicht immer ausschließen, dass sich patriarchalisch geprägte Interpretationen einschleichen. Sei das, weil der Ausgräber sich allein auf Grabbeigaben gestützt, als er (ja, das ist eine bewusste Verwendung des männlichen Pronomens) Skelette geschlechtsbestimmt hat, sei das, weil er in der abschließenden Interpretation einfach dem gefolgt ist, was er innerhalb seines Erfahrungshorizonts für denkbar gehalten hat. Das ist menschlich und es ist Teil der Forschungsgeschichte. Diese alten Deutungen haben Einfluss auf heutige, das kann man nicht ignorieren oder abtun, man muss sie kritisch hinterfragen und sich mit ihnen auseinandersetzen, um dann hoffentlich zu einem besser begründeten Ergebnis zu gelangen.

Das ist Forschung. So läuft das.

Wo man diese Strukturen findet

Archäologen denken um, was Geschlechtsdimorphismus, Rollenverteilungen und Identitäten in prähistorischen Kulturen angeht. Aber es ist ein Prozess, oft ein langwieriger und schwieriger. Er wird nicht leichter dadurch, dass diese Ideen sich durch alles mögliche ziehen, Publikationen, Vorträge, Schulbücher, sogar die Illustrationen derselben. Es ist keine Seltenheit, dass selbst in gut recherchierten Publikationen auf Illustrationen Frauen mit Kindern im Haus zu sehen sind, während der Mann draußen das Holz hackt oder das Schwert schmiedet oder den Acker pflügt. Das ist wahrscheinlich nicht falsch, aber es ist eben wahrscheinlich auch nicht die ganze Wahrheit.

Nichtsdestotrotz haben diese Darstellungen Einfluss darauf, wie wir alle uns Vorgeschichte vorstellen und gerade Bilder können einen sehr viel stärkeren Eindruck hinterlassen als geschriebener Text. Archäologiestudierende kommen nicht unbeleckt und ahnungslos ins Studium, sie fangen das Studium schon mit bestimmten Vorstellungen davon an, „wie es mal gewesen ist“, weil sie im Museum waren, Dokus gesehen und Was-ist-was? gelesen haben. Und klar, im Laufe des Studiums lernen sie, diese Vorannahmen zu hinterfragen und gerade bei älterer Forschung kritisch zu sein. Bis diese neuen Forschungsergebnisse dann allerdings in die Öffentlichkeit sickern … das kann dauern. Es hat ein gutes Jahrhundert gedauert, bis die Wikinger endlich ihre Hörnerhelme losgeworden sind, und manche Leute wissen immer noch nicht, dass sich diese Vorstellung auf den Kostümbildner von Wagner zurückverfolgen lässt.

Es wird wahrscheinlich noch mal genauso lange dauern, bis ein paar weitere wichtige Grundsätze der Archäologie durchgesickert sind, die schon erwähnt wurden:

Eine Hypothese ist kein Fakt.

Ein Modell ist nicht die Wahrheit.

Eine tote Person kann man nicht mehr nach ihrem Weltbild oder ihrer Selbstwahrnehmung fragen.

Eine prähistorische Gesellschaft kann ähnliche Strukturen, Weltvorstellungen, Wertesystem und Aufgabenverteilungen gehabt haben wie unsere heutige – aber solange wir das nicht mit konkreten Beweisen verankern können, bleibt jede Aussage darüber eine
Hypothese, erst recht, wenn sich die Aussage auf unsichtbare gesellschaftliche Strukturen wie das Patriarchat bezieht.