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Das Patriarchat – wie lange gibt es das schon? Eine Expertin klärt auf

von | Aug 28, 2023 | Analyse

Prähistorische Quellen zur Erforschung des Patriarchats

Zuallererst sollte einmal gesagt werden: Archäologie ist eine Wissenschaft. Ja, auch Geisteswissenschaften und Fächer, die irgendwo zwischen Geistes- und Naturwissenschaft stehen, weil sie z.B. viele naturwissenschaftliche Methoden anwenden, sind Wissenschaften. Es gibt Methoden, Grundsätze und Paradigmen, es gibt Regeln, die sichern sollen, dass Forschungsergebnisse verlässlich, nachvollziehbar und so weit wie möglich objektiv sind.

Wie in jedem anderen Forschungsgebiet bedeutet das auch, dass in der Archäologie keine Gesetze in Stein gehauen werden. (Also schon, aber das nennt sich dann Experimentelle Archäologie und dient dazu, herauszufinden, wie man anno dazumal Gesetze in Stein gehauen hat.)

Neue Forschung bringt neue Aspekte zum Vorschein, neue Methoden eröffnen andere Blickwinkel oder lassen Neuinterpretationen von altem Material zu. Es ist ein ständiger Prozess, der auch beinhaltet, dass man manchmal auf Abwege gerät und später erkennt, dass man falsch gelegen hat.

Bei der Archäologie kommen aber zusätzlich noch einige Unsicherheitsmomente dazu, die man in den Naturwissenschaften so vielleicht nicht hat, was damit zusammenhängt, dass Archäologen sich mit Menschen beschäftigen. Menschen, wie wir wissen, sind nicht immer logisch. Menschen tun Dinge mal so und mal so, in derselben Situation treffen wir zwei unterschiedliche Entscheidungen und wir können schon auch mal an zwei Dinge glauben, die sich komplett widersprechen. Das ist heute so, das war mit ziemlicher Sicherheit auch vor 500, 1000 oder 10.000 Jahren so, denn unsere Gehirne haben sich nach allem, was wir wissen, seit mindestens 200.000 Jahren nicht grundlegend verändert.

Prähistorische Spuren

Das hat natürlich zum einen Auswirkungen darauf, wie unsere Vorfahren gehandelt haben, aber auch darauf, wie wir heute die Spuren der Handlungen unserer Vorfahren interpretieren. Von welchen Spuren sprechen wir da? Nachdem schriftliche Quellen ja bereits ausgeschlossen wurden, weil nicht-existent, bleiben nur materielle Hinterlassenschaften. Die kommen aber in größerer Bandbreite, als man manchmal erwartet. „Siedlungsspuren“ z.B. sind nicht nur Gebäude (lies: Hausgrundrisse aus Pfostenlöchern – das Haus ist fast immer komplett vermodert), sondern auch prähistorische Pflugspuren in Äckern, Wälle, die Äcker voneinander abtrennen, Brücken und Straßen und andere Infrastruktur – z.B. Latrinen.

Anhand dieser Spuren können Archäologen Rückschlüsse darauf ziehen, wie viel Platz Menschen durchschnittlich im Haus hatten, ob die Tiere mit im Haus oder draußen gelebt haben oder ob die Häuser regionale Unterschiede aufweisen, bspw. ob in einer Gegend runde Hausgrundrisse überwiegen und woanders viereckige. Zusammen mit anderen materiellen Hinterlassenschaften wie etwa der verwendeten Keramik können dann vorsichtige Schlüsse gezogen werden, dass es sich eventuell um zwei unterschiedliche Gruppen handelt, von denen eine runde Häuser baut und die andere viereckige.

Rückschlüsse, die man daraus nicht ziehen kann: dass die beiden Gruppen verfeindet waren; dass sie unterschiedlichen „Stämmen“ angehört haben; dass sie unterschiedliche Sprachen gesprochen haben. Denn es kann auch andere Erklärungen dafür geben, warum eine Gruppe runde Häuser bevorzugt. Möglicherweise hängt es mit dem Arbeitsaufwand zusammen, oder mit dem Baumaterial, das der Gruppe zur Verfügung stand (in Rundhäusern ist die Traglast anders verteilt), oder die geographischen Gegebenheiten sind so, dass runde Häuser praktischer waren (z.B. in sumpfigen Gebieten).

Interpretation

Natürlich kann man nicht ausschließen, dass es sich bei den beiden Gruppen um unterschiedliche Gruppen handelte, die unterschiedliche Sprachen gesprochen haben, andere Traditionen hatten und eventuell sogar verfeindet waren. Aber eine gründliche archäologische Auswertung darf ihre Erklärungen nicht allein in menschlichem Verhalten suchen, denn menschliches Verhalten wird durch Faktoren wie Geographie, Klima, zur Verfügung stehendem Material genauso beeinflusst wie durch Traditionen und religiöse Vorstellungen. Und, in manchen Fällen und genauso wie heute, von der Mode. Objekte aus Keramik, Stein, Metall und Holz weisen sehr oft Verzierungen auf, oft auch sehr kunstvolle, und es gibt bestimmte Stile, die sich von einem Kerngebiet aus sehr weit ausbreiten, ohne dass notwendigerweise das komplette Glaubenssystem der Ursprungskultur mit exportiert worden ist.

Davon abgesehen sind Objekte ja auch meistens ziemlich mobil, man kann sie sehr leicht bewegen, und auch vorgeschichtliche Menschen hatten schon ein Faible für exotische Dinge und Materialien. Über Handelsrouten kommt also bspw. Bernstein und Bernsteinschmuck von der Ostsee in mykenische Gräber in Griechenland – es ist eher unwahrscheinlich, dass die Menschen in diesen für die damalige Zeit sehr weit entfernten Gebieten derselben Religion anhingen oder dieselben Weltvorstellungen hatten.

Umgekehrt findet man mit chinesischer Seide bestickte Schuhe in mittelalterlichen Städten in Skandinavien (z.B. Bergen in Norwegen), und das bekannteste Beispiel dürfte wohl der in Helgö in Schweden gefundene Buddha sein, der irgendwann vor 750 dort gelandet ist. Ist es theoretisch möglich, dass ein Einwohner von Helgö während einer Reise zum Buddhismus konvertiert ist und die Figur mitgebracht hat als Ausdruck der neuen Religion?

„Theoretisch möglich“ ist vieles – aber als Wissenschaft ist die Archäologie auch verpflichtet, eine Unterscheidung zu machen zwischen dem, was denkbar und dem, was wahrscheinlich ist – und nicht zuletzt zwischen Fakten und Hypothesen. Fakt ist, der Buddha wurde in Helgö gefunden. Fakt ist, er kommt aus Nordindien. Da der Buddha sich wohl eher nicht aus eigener Kraft nach Helgö transportiert haben wird, ist wahrscheinlich, dass er über die Handelsrouten dorthin gelangt ist.

Warum? Alle Vermutungen dazu bleiben Hypothesen.

Die „Leiter der Schlussfolgerungen“

Ohnehin zählen gesellschaftliche Strukturen wie Religionen und soziale Organisation zu den Aspekten einer Kultur, die aus archäologischer Sicht extrem schwer fassbar sind. Der britische Archäologe Christopher Hawkes hat das als „ladder of inference“ beschrieben, also eine Leiter, deren Stufen jeweils eine Art der Schlussfolgerung beschreiben. Ihm zufolge ist es am einfachsten, anhand von Gegenständen herauszufinden, wie und mit welcher Technologie sie hergestellt wurden.

Darauf aufbauend, auf der zweiten Stufe, kann man Schlussfolgerungen ziehen, in welcher Art von ökonomischem System diese Gegenstände benutzt wurden. Auf der dritten Stufe stehen Aussagen über die Gesellschaft, welche diese Gegenstände benutzt hat und ganz oben, auf der vierten und schwierigsten Stufe, welcher Religion diese Gesellschaft anhing.

Warum auf der vierten Stufe? Warum soll es so schwer sein, anhand der Objekte, die sie benutzt, Aussagen über eine Gesellschaft zu treffen? Weil gesellschaftliche Strukturen – und dazu zählt auch das Patriarchat und die Wahrnehmung, Akzeptanz und Wertung verschiedener Geschlechter – sich in sehr unterschiedlicher Art und Weise auf die Gegenstände auswirken, die wir benutzen. Nehmen wir mal das moderne Beispiel von Grabsteinen. Für uns ist völlig klar, dass die Platzierung der Namen auf dem Grabstein mit der Reihenfolge zusammenhängt, in der die im Grab beerdigten Menschen verstorben sind.

Wir sind dran gewöhnt, Listen von oben nach unten zu führen und von links nach rechts zu schreiben, also wird der nächste Verstorbene (je nach Art des Grabsteins) entweder unter oder rechts von dem zuerst Verstorbenen gelistet. Da schwingt keinerlei Wertung irgendeiner Art mit, obwohl ja gerade ein Grabstein eigentlich der Ort wäre, um patriarchale Strukturen zu verewigen (Männer links, Frauen rechts, oder ein eigener, kleinerer Grabstein für Frauen, oder ein kleinerer Schriftzug für Frauen – da gäbe es echt viele Möglichkeiten).

3000 Jahre später…

Archäologen aus dem Jahr 5000 (unserer Zeitrechnung) könnten allerdings deutlich verwirrter auf diese Anordnung reagieren. Ist es von Bedeutung, dass auf manchen Grabsteinen die Namen in einer Reihe von oben nach unten angeordnet sind und auf anderen in zwei Reihen von links nach rechts? Hat die Anordnung oben-nach-unten eine hierarchische Bedeutung, ist der zuerst genannte Verstorbene der wichtigste Verstorbene, während die nebeneinander stehenden Verstorbenen gleichberechtigt waren? Das logische Argument hier ist natürlich „das wird ja klar, wenn man sich Geburts- und Sterbedatum anschaut“. Stimmt. Dazu muss der Grabstein aber auch in seiner Gänze erhalten sein, Archäologen im Jahr 5000 müssen immer noch wissen, wie unsere Zeitrechnung funktioniert hat und müssen verstehen, dass die Daten auf dem Stein Geburts- und Sterbedatum sind und nicht z.B. eine Art Kodierungssystem für unterschiedliche Berufe und wie lange die Person als solche gearbeitet hat.

Oder vielleicht steht eine von den Zahlen ja auch für die Anzahl der Kinder, die diese Person gezeugt/geboren hat? Oder wie oft sie verheiratet gewesen ist? Oder welchen sozialen Status sie in unserer Gesellschaft hatte? Das klingt total weit hergeholt, ich weiß. Aber das ist nur deshalb so, weil wir uns alle auf dasselbe gesellschaftliche System und Verständnis davon berufen können, welche Art von Informationen auf einem Grabstein festgehalten werden. Für Archäologen im Jahr 5000, die nichts von uns kennen als die Gegenstände, die wir hinterlassen haben, macht ein 12-stufiges Kastensystem, innerhalb dessen man auf- und absteigen kann (daher die unterschiedlichen Monatsangaben bei Geburts- und Sterbejahr) genauso viel Sinn wie die Aufteilung eines Jahres in 12 Monaten. Wir könnten das Jahr ja auch in vier Jahreszeiten aufteilen, das macht eigentlich sogar mehr Sinn. Und warum halten wir eigentlich auf dem Grabstein fest, wie lange ein Mensch gelebt hat, aber nicht den Beruf, die Anzahl der Kinder oder wieviel Geld der Mensch in der Bank hatte, als er gestorben ist?

Weil es innerhalb unseres Wertesystems wichtiger ist, den Zeitraum festzuhalten, den ein Mensch mit uns verbracht hat. Aber wenn man mal auf dem Friedhof in die Ecke mit den älteren Gräbern geht, da stehen Grabsteine, wo der Beruf festgehalten ist – oder ein Namenszusatz wie „Fräulein“ oder eine Information wie „geborene X, verwitwete Y“. Macht man heute nicht mehr, weil es nicht mehr wichtig ist. Unser Wertesystem hat sich geändert. Wir verstehen die Botschaft zwar noch, aber auf unsrem Grabstein wollen wir unsren Beruf trotzdem nicht haben, wahrscheinlich auch keine Information wie „verwitwete Y“, oder heute vielleicht eher „geschiedener Z“. Es gibt keine Garantie dafür, dass Grabsteine im Jahr 5000 überhaupt noch existieren, ebenso wenig dafür, dass Archäologen im Jahr 5000 (oder Aliens, wenn euch das lieber ist) noch verstehen werden, welche Überlegungen unsren Grabsteinaufschriften zugrunde liegen.

Wessen Job war es?

Das Patriarchat, auch wenn das jetzt vielleicht einigen sauer aufstoßen mag, ist ebenfalls ein Wertesystem. Eines, in dem Männern mehr Wert zugeschrieben wird als Frauen und Nicht-Männern, in dem eine Aufgabenteilung basierend auf biologischem Geschlecht und eine Auf- bzw. Abwertung von Aufgaben postuliert wird, je nachdem, wer sie ausführt. Also wie diagnostiziert man eine solche Struktur wie das Patriarchat anhand von prähistorischen Quellen? Lassen Siedlungsstrukturen Rückschlüsse darauf zu?

Siedlungsstrukturen lassen Rückschlüsse auf Arbeitsbereiche innerhalb eines Hauses oder einer Siedlung zu, ja. Eine Feuergrube mit Keramikscherben ist ein ziemlich guter Indikator, dass hier gekocht worden ist, eine Feuerstelle mit Schlacke wird dann wohl eher zur Metallbearbeitung genutzt worden sein.

Spinnwirtel in einem kleineren Nebenhaus oder an einer bestimmten Stelle des Haupthauses lassen vermuten, dass hier wohl gesponnen wurde, Webgewichte deuten an, dass hier ein Webstuhl gestanden haben könnte.

Aber sagt uns das etwas darüber, wer diese Tätigkeiten ausgeführt hat?

Nein.

Warum nein? Ist doch logisch, dass Männer Schmiede waren und Frauen gewebt haben

Nein.

In den englischen Stoffabriken des 18. und 19. Jahrhunderts waren die Textilarbeiter Männer. Stricken, wenn es als Handwerk ausgeübt wurde, war Männersache, siehe die französischen Gilden der Stricker. Sterneköche sind immer noch meistens Männer.
Dass diese Tätigkeiten im privaten Bereich heute mit Frauen verknüpft sind, ist eher der Tatsache zuzuschreiben, dass wir nicht mehr auf professionelle Handwerker angewiesen sind, um Stoffe zu weben und zu stricken – dafür haben wir heute Maschinen. Die gab es aber weder in der Steinzeit noch im Mittelalter. Stoff wurde, soweit irgendwie möglich, selbst hergestellt, und ob es wirklich klug ist, in einer Subsistenzwirtschaft, in der nur knapp mehr als das zum Überleben notwendige produziert wird (oder werden kann),
strikte Aufgabentrennung beizubehalten … na, dazu später mehr.

Mit ein paar Knochen das Patriarchat in prähistorischen Epochen beweisen? So einfach ist es nicht

Konzentrieren wir uns erstmal darauf, wieso in prähistorischen Epochen bestimmte Tätigkeiten überhaupt bestimmten biologischen Geschlechtern zugeordnet werden und wieso das als Hinweis auf die Existenz einer gesellschaftlichen Struktur wie das Patriarchat interpretiert wird. An dieser Stelle muss eine Sache ganz deutlich erwähnt werden: Die Struktur „Patriarchat“ hängt mit einem binären Verständnis von biologischem Geschlecht zusammen. Es gibt Männer und es gibt Frauen. Es gibt kein Zwischendrin, und Männer haben einen höheren Status als Frauen.

Warum ist das wichtig? Tja. Weil archäologische Geschlechtsbestimmung und die Sache mit den „Männern hier und Frauen da“ aus archäologischer Perspektive nicht so einfach ist, wie man denken könnte. Und weil der Grund, dass bestimmte Tätigkeiten einem bestimmten biologischen Geschlecht zugeordnet werden, ist, dass Gegenstände, die für die Tätigkeit nötig waren, in prähistorischen Gräbern gefunden wurden, also z.B. Spinnwirtel in Frauengräbern, Schmiedewerkzeuge in Männergräbern.

Da gibt es nur ein paar kleine Unsicherheitsmomente.