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Das Patriarchat – wie lange gibt es das schon? Eine Expertin klärt auf

von | Aug 28, 2023 | Analyse

Geschlechtsspezifische Aufgabenteilung = Patriarchat?

Aber das ist ja auch nicht so richtig das Problem, oder? Die Beobachtung, dass bestimmte Beigaben große Übereinstimmung mit Skeletten eines biologischen Geschlechts zeigen, ist ja weder falsch noch ist sie an sich besonders aufsehenerregend. Das Problem ist eher, was daraus dann gemacht wird: Männer- und Frauenskelette werden mit bestimmten Gegenständen begraben, die wiederum als Ausdruck ihrer Identität interpretiert werden.

Und da die Gegenstände an biologische Geschlechter gebunden sind, müssen auch die Tätigkeiten, die mithilfe dieser Gegenstände ausgeführt worden sind, an das biologische Geschlecht geknüpft gewesen sein.

Klares jein. Die Gegenstände können natürlich stellvertretend für Aufgaben stehen, die Personen eines bestimmten Geschlechts regulär ausgeführt haben. Aber selbst wenn wir es als gegeben hinnehmen, dass diese Tätigkeiten ausschließlich von dieser einen Gruppe ausgeführt worden sind, statt anzunehmen, dass sie meistens von Mitgliedern dieser Gruppe ausgeführt wurden, aber auch von Mitgliedern anderer Gruppen ausgeführt werden konnten, gibt uns das nur einen sehr begrenzten Einblick in die Tätigkeitsverteilung. Denn bestimmte Gegenstände eignen sich einfach denkbar schlecht, um sie mit ins Grab zu legen. Pflüge etwa, die sind ziemlich groß und sperrig und außerdem braucht man die. Oder Ruten, die zum Tierhüten benutzt werden, das ist vielleicht nicht die Art Gegenstand, die man seinen Liebsten mit auf die letzte Reise geben will, auch wenn das im täglichen Leben ihr Job war.

Und selbst wenn sie im Grab gewesen sein sollten, wären sie inzwischen einfach spurlos vermodert. In einer prähistorischen Kultur ohne Supermarkt gibt es so viele unterschiedliche Arbeitsbereiche, die abgedeckt werden müssen, wenn man die Leute wirklich mit allen Gegenständen beerdigen wollte, mit denen sie tagtäglich gearbeitet haben, müsste man wahrscheinlich das halbe Haus mit ins Grab legen. Und welche Gegenstände zum Beispiel legt man mit ins Grab, um eine Aufgabe wie Kinderhüten zu versinnbildlichen? Das Kind selbst kommt ja wohl nicht infrage.

Alltagsaufgabe oder Ritus?

Auch was Aufgabenbereiche wie beispielsweise das Kochen angeht: Töpfe mit Essen und Essgeschirr finden sich sowohl in Gräbern mit Frauen- als auch Männerskeletten. Verstorbenen Wegzehrung mit ins Grab zu geben ist üblich und sagt erst mal nichts darüber aus, wer das Essen gekocht und das Geschirr benutzt hat. Es ist also nicht ganz so einfach, anhand von Grabbeigaben auf die möglichen Arbeitsaufgaben einer Person zu schließen, denn die Beigaben, die mit ins Grab kommen, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nur Ausdruck bestimmter Aufgaben, während andere aus unterschiedlichen Gründen nicht mit begraben wurden.

Stellt euch das mal auf die heutige Zeit übersetzt vor: nach eurem Tod untersucht jemand eure sozialen Medien, findet dabei aber nur den Account, den ihr für die Arbeit benutzt habt. Wie aussagekräftig wäre dieser Account, was eure Identität betrifft, die Vorstellung, die ihr von euch selbst habt? Wer ihr seid, als Mensch, als Person? Oder jemand findet eure Fotoalben, aber nur die aussortierten mit den Bildern mit dem/der Ex.

Wie gut würde so ein Fotoalbum euch als die Person, die ihr heute seid, repräsentieren?

Zwischen Wiege und Bahre passiert viel

Das Problem mit genormten Bestattungen ist halt, dass sich individuelle Präferenzen nicht unbedingt feststellen lassen und Menschen ja nicht von Geburt bis Sterbebett dieselbe Person bleiben. Das mag in der heutigen Gesellschaft stärker ausgeprägt sein als in der Prähistorie, aber trotzdem wird bei einer solchen Sichtweise auch komplett außer Acht gelassen, dass die Aufgaben einer Person, egal welchen Geschlechts, sich über den Lauf ihres Lebens verändert haben werden. Woher wissen wir beispielsweise, dass Kinderhüten eine geschlechtsspezifische Aufgabe war und keine altersspezifische? Es gab auch im Neolithikum schon ältere und alte Menschen, nicht jeder ist mit spätestens 40 verstorben. Es ist genauso gut möglich, dass Kleinkinder beispielsweise von den Großeltern oder, falls vorhanden, älteren Geschwisterkindern betreut wurden, während die Eltern anderen Aufgaben nachgingen.

Unser heutiger Blick auf die Aufgabenverteilung gerade in der Kinderbetreuung ist extrem stark davon geprägt, dass die meisten von uns in den sogenannten „Kernfamilien“ aufgewachsen sind, die eben aus Eltern (meist unterschiedlichen Geschlechts) und ihren direkten Nachkommen bestehen. Das entspricht aber absolut nicht der Familienstruktur, die wir beispielsweise im Mittelalter beobachten können und die für andere prähistorische Epochen zumindest sehr wahrscheinlich ist – das wäre nämlich die Großfamilie, in der mindestens drei, wenn nicht sogar mehr Generationen unter einem Dach zusammenleben. Dass sich mit einer anderen Altersverteilung auch die Aufgabenverteilung anders gestaltet, ist selbst in heutigen Gesellschaften noch zu beobachten.

Und da haben wir ja noch keine Rücksicht auf eventuell sozial bedingte Aufgabenverteilungen genommen. Je nach Ort und Zeit gehörten zu solchen Großfamilien schließlich auch noch Bedienstete und Sklaven. Nein, die Rede ist hier nicht von vom afrikanischen Kontinent entführten schwarzen Sklaven, sondern von weißen Sklaven, die bspw. die Wikinger sehr gern haben mitgehen lassen, vorzugsweise aus Irland und Großbritannien. Auch die gehörten zur Großfamilie, leisteten ihren Teil der Arbeit, sind irgendwann gestorben und wurden bestattet – und es ist gerade in einer Zeit, in der Brandbestattungen weit verbreitet sind, wirklich nicht einfach zu sagen, ob man hier eine Person von hohem oder niedrigem sozialen Rang vor sich hat.

Was tun, was nun?

Wie lässt sich nun die Frage danach beantworten, wer die Kinder gehütet hat? Gar nicht. Denn das hing mit hoher Wahrscheinlichkeit von diversen Faktoren ab, von denen biologisches Geschlecht wahrscheinlich einer gewesen ist.

Alter, soziale Stellung sowie körperliche Leistungsfähigkeit können aber genauso eine Rolle gespielt haben, eventuell sogar eine wichtigere als das biologische Geschlecht.

Selbst wenn wir davon ausgingen, dass wir allein durch die Grabbeigaben ein vollständiges Bild einer Person und ihrer Aufgaben im Leben bekommen, bleibt da immer noch ein weiteres Problem, wenn das als Beweis für das Patriarchat dienen soll. Denn eine Gesellschaft, die eine geschlechtsgebundene oder geschlechtsspezifische Aufgabenteilung hat, ist nicht automatisch mit dem Patriarchat gleichzusetzen. Die Idee, dass bestimmte Aufgaben, spezifische Arbeit, „weniger wert“ ist als eine andere Arbeit, und dass die Personen, die diese Aufgaben ausführen, ebenfalls weniger wert sind als die andere Gruppe, ist Teil des Patriarchats.

Ja, okay, und wo ist das Problem?

Das Problem ist, dass man tote Menschen nicht fragen kann, ob sie der Meinung waren, dass auf die Kinder aufpassen und Essen kochen weniger wichtig war als das Feld zu bestellen. Das können wir nicht wissen. Das werden wir niemals wissen, weil wir tote Menschen nicht danach fragen können.

Gesellschaftsstrukturen in prähistorischen Kulturen: Es ist kompliziert

Was wir wissen, ist, dass die meisten prähistorischen Kulturen Subsistenzwirtschaften waren. Es wurde so viel produziert, wie zum Überleben nötig war, mit einem kleinen Überschuss, der dazu benutzt wurde, Dinge einzutauschen, die man selbst nicht herstellen
konnte. Und in einer Subsistenzwirtschaft bleibt es nicht aus, dass man pragmatisch denken und handeln muss. Man kann es sich nicht leisten, die Frauen an den Herd zu schicken, wenn es darum geht, das Korn zu ernten, bevor der Regen die Ernte zerstört.

Das Patriarchat, so wie wir es kennen, mit strikter Aufgabenteilung und Geschlechtertrennung, ist zu einem gewissen Grad eine Luxuserscheinung einer Gesellschaft, die genug produziert, um sich keine Gedanken ums Überleben machen zu müssen.

Das bedeutet nicht, dass es in Subsistenzwirtschaften nicht auch starre Strukturen geben kann, die bestimmten Gruppen den Zugang zu bestimmten Ressourcen versagen oder Menschen in eine Rolle zwingen, die sie nicht für sich selbst wählen würden. Ob man das allerdings als „Patriarchat“ bezeichnen sollte, ist eine andere Frage, denn wie bereits erwähnt, „Patriarchat“ im heutigen Verständnis impliziert eine Abwertung einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft, in diesem Fall Frauen und Nicht-Männer.

Das kann aber auch in beide Richtungen funktionieren, nicht nur in eine. Aufgaben mit hohem Prestige können auch Frauen vorbehalten gewesen sein, während Männern andere Aufgaben mit hohem Ansehen vorbehalten waren. Es entspricht nicht unseren modernen Vorstellungen von Gleichberechtigung, denn hier ist der Punkt ja genau, dass jeder Person alle Wege offenstehen sollen. Das ist auch gut und richtig so, aber diese Erwartungshaltung auf eine prähistorische Kultur zu übertragen, ist gelinde gesagt, naiv und zu einem gewissen Grad moderne Arroganz.

Wir wissen nicht, ob die Menschen in dieser Kultur solche Strukturen als Einschränkung empfunden haben. Wir wissen nicht, ob mit diesen Strukturen eine Abwertung bestimmter Aufgaben und/oder Gruppen einhergegangen ist. Und wir wissen nicht, wie rigide oder durchlässig diese Strukturen waren – wir haben keine Ahnung, ob es möglich war, von einer Gruppe in die andere zu wechseln, und wie schwer ein solcher Wechsel war.

Sorry, aber: Wir wissen einfach nicht, ob es vor 8000 Jahren „das Patriarchat“ gab!

Wir wissen noch nicht mal, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe überhaupt an das Geschlecht einer Person geknüpft war oder ob völlig andere Faktoren eine viel wichtigere Rolle gespielt haben, gerade wenn es sich um Aufgabenbereiche handelt, die
in Grabbeigaben nicht gespiegelt werden. Nur weil unsere moderne Gesellschaft so viel Wert auf Geschlecht als Konzept legt, um Menschen in Gruppen zu sortieren, heißt das nicht, dass eine prähistorische Gesellschaft vor 8000 Jahren (!) das auch getan hat.

Und solange wir das alles nicht wissen, ist es bestenfalls methodisch fragwürdig, eine moderne Bezeichnung wie Patriarchat für eine prähistorische Gesellschaft zu verwenden oder „Spuren des Patriarchats“ in einer prähistorischen Kultur zu konstatieren. Das ist eine extrem einseitige Interpretation und nimmt im Regelfall keinerlei Rücksicht auf andere bereits erwähnte Faktoren wie Klima, Geographie, andere soziale Strukturen und nicht zuletzt ritualisierte Bestattungsgebräuche, die vielleicht einfach nicht der allerbeste Spiegel des Alltagslebens sind.

Hier stößt die Archäologie einfach an ihre Grenzen und alle Aussagen, die darüber getroffen werden, beruhen entweder auf ethnologischen Parallelen – was seine ganz eigenen Probleme mit sich bringt – oder darauf, was der Forschende für möglich hält.

Und das bringt uns zum letzten Punkt dieser Betrachtung.